Hanna (Maresi Riegner) liebt ihre beiden Töchter, aber die Ehe mit ihrem reichen Wiener Ehemann Anton (Philipp Hauß) war von Anfang an unglücklich. Mittlerweile ist sie zu einem Gefängnis verkommen. Um endlich den gewünschten Sohn zu bekommen, schickt der herrische Gebieter seine angeblich an „genitaler Neurose“ leidende Frau von Arzt zu Arzt, von Heiler zu Heiler. Als alles nichts hilft, versucht er es mit einer Vergewaltigung. Hals über Kopf flieht Hanna zu Otto Gross (Max Hubacher), dem Psychoanalytiker, bei dem sie in Behandlung war und in den sie sich verliebt hat. Gross musste Hannas Therapie unterbrechen, weil er selber Probleme hat und seine Drogensucht auf dem „Monte Verità“ heilen möchte, einem Sanatorium im Tessin nahe Ascona. Auf dem Monte findet Hanna freilich keine traditionelle Heilanstalt, sondern eine alternative Lebensgemeinschaft, wo fleischlos lebende Nudisten im Jahr 1906 mit freier Liebe und anarchistisch angehauchten Ideen experimentieren. Erst ist sie schockiert und will gleich wieder weg. Aber nach und nach freundet sie sich mit zwei freiheitlich lebenden Frauen an, mit Ida Hofmann (Julia Jentsch) und Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung).
Ein Leben zum Ersticken
Es sind die frühen Tage der Fotografie. Zum Familienfoto versammelt sich eine festlich gekleidete Gesellschaft, in enge Kleider geschnürt und starr hindrapiert. „Nicht atmen“ befiehlt Hausherr Anton den Seinen. Jede Regung, dachte man beim damaligen Stand der Technik, würde das Bild auf der teuren Fotoplatte verwackeln lassen. Sogar das Luftholen. Antons Frau Hanna hält sich an das Gebot ihres Mannes, der streng hinter ihr steht und ihr die Hände besitzergreifend auf die Schultern legt. Und das, obwohl sie in letzter Zeit immer stärker unter asthmatischen Anfällen leidet. Klick, das Blitzlicht zündet – und Hanna kippt ohnmächtig um.
In der Nacherzählung wirkt die Metapher des „Keine-Luft-Kriegens“ zwar ein wenig plump. Aber die sinnliche Visualität von Monte Verità – Der Rausch der Freiheit macht das nahe liegende Spiel mit wörtlicher und übertragener Bedeutung unmittelbar plausibel. Wer Hanna sieht – ihren Kragen, ihr Kleid, die streng gebändigten Haare – begreift mit einem Blick, wie es um die junge Frau steht. Und er versteht ohne Worte, was mit ihr bei den lebensreformerischen Vorläufern einer Hippie-Kommune geschieht. Nicht auf einen Schlag, sondern ganz allmählich, nachdem sie sich von dem Fieber erholt, das sie in den ersten Tagen ins Bett und zum Bleiben zwingt. Dazu reicht es, wenn sich die überwiegend im Dienst der Schauspieler stehende Kamera von Daniela Knapp manchmal selbstständig macht und zum Flug ansetzt, wie berauscht von der malerischen Schönheit des Hügels über dem See. Wenn sie den Weitblick genießt, den Wind in den Haaren, die klare Luft. Freiheit, das ist auch: ein bequem sitzendes Kleid, ein nächtliches Feuer, eine Wiese mit weitem Horizont.
Die von Ida Hofmann, Lotte Hattemer und anderen auf dem Monte Verità gegründete Lebens- und Therapiegemeinschaft gab es wirklich. Hanna, die dort ihre Leidenschaft für den künstlerischen Ausdruck in der Fotografie entdeckt, ist die einzige frei erfundene Figur. Die Vorläufer heutiger Landkommunen zogen damals bedeutende Schriftsteller und Künstler an. Im Film tauchen etwa Hermann Hesse (Joel Basman) und die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan (Eleonora Chiocchini) auf. Von Erich Mühsam und seinen anarchistischen Ideen ist die Rede. Über sie wird leidenschaftlich diskutiert, auch wenn der linke Politiker zum Zeitpunkt der Handlung schon wieder abgereist ist, um in München eine ähnliche Gemeinschaft aufzubauen.
Aktuelle Bezüge auf heutige Probleme
Dennoch haben der Schweizer Regisseur Stefan Jäger und seine Drehbuchautorin Kornelija Naraks kein dokumentarisch präzises Bild der Monte-Verità-Gemeinschaft und ihrer frühen Utopie zeichnen wollen. Wer mehr über die heute weitgehend vergessene Bewegung wissen möchte, ist mit Dokumentarfilmen und Büchern besser bedient. Der Spielhandlung geht es mehr um eine auf Fakten basierte Phantasie über das, was damals geschah – um die sinnliche Erfahrung, was es bedeutet, sämtliche Fesseln hinter sich zu lassen und zu einem eigenen Weg im Leben zu finden, zur Heilung von Neurosen und Wunden, die Erziehung und gesellschaftliche Konventionen geschlagen haben. Es ist also ein moderner Blick auf eine Historie, die längst nicht abgeschlossen ist. Noch heute ist es für Frauen schwieriger als für Männer, einer künstlerischen Leidenschaft zu folgen und dennoch Familie zu haben. Und dass sich die Utopie freiheitlicher Gemeinschaften nicht erledigt hat, wird jeder feststellen, der die Begriffe „Öko-Dörfer“ oder „alternativ leben“ in eine Suchmaschine eingibt.
OT: „Monte Verità“
Land: Schweiz, Deutschland, Österreich
Jahr: 2021
Regie: Stefan Jäger
Drehbuch: Kornelija Naraks
Musik: Volker Bertelmann
Kamera: Daniela Knapp
Besetzung: Maresi Riegner, Max Hubacher, Julia Jentsch, Hannah Herzsprung, Joel Basman, Philipp Hauß
Wie sah die Arbeit an dem Film aus? Und wie steht sie zu der schwierigen Entscheidung ihrer Figur? Diese und weitere Fragen haben wir Hauptdarstellerin Maresie Riegner in unserem Interview zu Monte Verità – Der Rausch der Freiheit gestellt.
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