Je größer eine Stadt ist, umso schwieriger wird es, ihr bei einer möglichen Charakterisierung gerecht zu werden. Denn mit der steigenden Zahl an Menschen, die an einem Ort leben, steigt zwangsläufig auch die Vielfalt. Berlin ist hierfür ein Paradebeispiel, in dem vom rohen Underground bis zu schicken Hipstern alles vertreten ist, ein kultureller Schmelztiegel, in dem es für alle einen Platz gibt. Zumindest noch. Wenn Filme oder Serien sich die deutsche Metropole schnappen und diese selbst zu einer Art Figur machen wollen, läuft es deshalb praktisch zwangsläufig auf einen Ausschnitt hinaus. Eine Interpretation dessen, was Berlin ist und einem selbst bedeutet. Ein zumindest der Idee nach interessanter Versuch, diese Vielfalt tatsächlich abzudecken, besteht darin, auf eine durchgängige Geschichte und feste Protagonist*innen zu verzichten und stattdessen ein episodenhaftes Erzählen zu versuchen.
Kurzgeschichten aus der Hauptstadt
Berlin, I Love You tat das vor einigen Jahren. Überzeugend war das Ergebnis aber kaum, nicht zuletzt weil das Ensemble aus zahlreichen Stars bestand, darunter diversen internationalen, die man nun kaum als Berlin-Aushängeschilder verkaufen kann. In der Hinsicht ist das ebenfalls episodenhaft angelegte Notes of Berlin deutlich authentischer. Mit der Berliner Mumblecore Ikone Tom Lass und Fernsehstar Andrea Sawatzki sind zwei Prominente im Cast. Der Rest setzt sich überwiegend aus bislang unbekannten Gesichtern zusammen. Multinational ist der Film dennoch: Neben diversen Figuren mit Migrationshintergrund tummeln sich auch Touristen auf den Straßen und verkörpern damit die Multikultigesellschaft, für die Berlin steht.
Die einzelnen Geschichten sind dabei meist ohne großen Zusammenhang. Regisseurin und Co-Autorin Mariejosephin Schneider springt von Episode zu Episode, wechselt dabei nicht nur die Figuren aus, sondern variiert auch die Tonalität. Vieles geht in eine humorvolle Richtung, weshalb Notes of Berlin offiziell auch als Komödie verkauft wird. Zwischendurch darf es aber auch sehr traurig werden, wenn eine Frau durch die Straßen irrt, immer noch außer Stande, den Tod ihres Sohnes zu verarbeiten. Die schmerzhafteste Szene ist dann auch die, wenn sie an der entsprechenden Kreuzung steht, an dem er ums Leben gekommen ist, und dabei feststellen muss, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Kreuzung handelt. Dass sie dort einen Teil von sich verloren hat, sieht man dem Ort nicht an, interessiert auch niemanden wirklich.
Zwischen Tragik und Komik
Dieser fliegende Wechsel bedeutet aber auch, dass nicht alles auf einem konstanten Niveau bleibt. Vereinzelte Höhepunkte gibt es, darunter die besagte Kreuzung-Episode, die durch eine starke Sawatzki zu Herzen geht. Ein anderer aus der komischen Richtung ist das absurde WG-Casting, welches sich über die akute Wohnungsnot in Berlin lustig macht. Doch es gibt eben auch viele Episoden in Notes of Berlin, die kaum in Erinnerung bleiben und letztendlich nicht mehr als Füllmaterial sind. Die schon sehr an der Grenze zwischen Alltäglichkeit und Banalität wandeln. Das darf man dann entspannend finden oder auch authentisch. Oder eben langweilig, zumal es bei der schauspielerischen Leistung ebenfalls zu Schwankungen kommt und man nicht unbedingt immer alles abkauft, was da gerade geschieht.
Eine originelle Konstante, die auch den Titel Notes of Berlin erklärt, sind die zahlreichen Aushänge des Films. Die einzelnen Geschichten wurden von tatsächlichen Aushängen inspiriert, die auf dem Blog notesofberlin.com gesammelt wurden. Und so sieht man immer wieder Bilder dieser Zettel, die von gefundenen Kaninchen erzählen oder von unerwarteten Schwangerschaften. Wie diese Zettel sind auch die einzelnen Episoden Momentaufnahmen einer Stadt, in der alles immer in Bewegung zu sein scheint. Davon kann man sich mitreißen und ein bisschen treiben lassen, unterwegs die unterschiedlichsten Leute treffen und Orte sehen. Neue Erkenntnisse wird man dabei vermutlich eher weniger sammeln, es ergibt sich auch nicht das eine große Berlin-Bild, trotz der vielen Einzelteile. Als Schnappschuss funktioniert der Film jedoch ganz gut.
OT: „Notes of Berlin“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Mariejosephin Schneider
Drehbuch: Mariejosephin Schneider, Thomas Gerhold
Musik: Rafael Triebel, Fabian Saul
Kamera: Carmen Treichl
Besetzung: Paul Boche, Louit Lippstreu, Lana Ellenrieder, Gareth Lennon, Olivia Kundisch, Bartholomew Sammut, Axel Werner, Katja Sallay, Zoe Steinbrenner, Matus Krajnak, Ardian Hartono, Malwina Senkiw, Yeliz Simsek, Jale Arikan, Nisan Arikan, Gizem Cetin, Şükriye Dönmez, Attila Kabuk, Ali Ekber, Hasan H. Tasgin, Helena Abay, Asil Aydin, Resit Ballikaya, Mex Schlüpfer, Stephanie Stremler, Tom Lass, Marko Dyrlich, Maria Mägdefrau, Taneshia Abt, Andrea Sawatzki, Leopold Altenburg, Frizzipina Schneider, Edgar Harter, Marc Philipps, Holger Behr, Stella Musell, Sandra Julia Reils, Maximilian Gehrlinger, Gernot Kunert, Sean Black, Warsama Guled, Alexander Martschewski, Ben Gibson, Frederik von Lüttichau, Nizam Namidar, Richard Dreher, Alaaddin Kemec
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