Der christliche deutsche Schriftsteller Jochen Klepper (Christoph Kaiser) hat einen Termin bei Adolf Eichmann (Dirk Waanders). Es geht um die Ausreise seiner jüdischen Stieftochter Renate (Sarah Palarczyk). Sie könnte nach Schweden gehen, wenn man sie denn ließe. Auch Kleppers jüdische Frau Johanna (Beate Krist) würde der Nazi-Hölle in Deutschland gern entfliehen. Doch das ist im Jahr 1942 schwierig geworden. Die Fürsprache von Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der die Werke Kleppers schätzt, ist kaum noch etwas wert, seitdem Eichmann die Judenvernichtung mit kaum vorstellbarer Brutalität vorantreibt. Der Cheforganisator des sechsmillionenfachen Mordes übermittelt dem „Arier“ Klepper nach anfänglichem Geplauder eine klare Botschaft: Er soll sich scheiden lassen, dann dürfe er weiter schreiben. Andernfalls träte sowieso bald eine Zwangsscheidung in Kraft. Frau und Tochter würden in jedem Fall deportiert, er solle das endlich begreifen.
Surreale Elemente
Bei dem historisch überlieferten Gespräch mit Eichmann geschehen seltsame Dinge, die es so natürlich nur im Film gibt. Gerahmte Fotografien fangen an zu sprechen. „Schäm’ dich“ rufen sie Klepper zu, der da auf dem Stuhl vor Eichmanns Schreibtisch sitzt. „Pfui“ schimpfen die Bilder erneut, nennen den Autor einen „Verräter“ und fordern „weg‘ mit ihm“. Eichmann freilich kann diese Stimmen nicht hören. Die sprechenden Rahmen sind surreal, nach außen gekehrte Visualisierungen von Kleppers Ängsten und Schuldgefühlen. Klepper wollte immer ein guter Deutscher sein. Er kämpfte an der Front für sein Vaterland, bis er wegen seiner jüdischen Frau aus der Armee ausgeschlossen wurde. Seine Heirat im Jahr 1931 mit einer Jüdin betrachtete er als Privatsache. Nie hätte er sich vorstellen können, dass der Staat etwas dagegen haben könnte.
Der Film basiert auf wahren Gegebenheiten, die Dialoge sind von Kleppers Tagebüchern inspiriert. Den Schriftsteller (1903 bis 1942) kennen heute nur wenige. Er studierte Theologie, wandte sich dann aber dem Schreiben zu. 1933 veröffentlichte er den Roman „Der Kahn der fröhlichen Leute“, ein Jahr zuvor hatte er eine Arbeit beim Rundfunk gefunden. Als etablierter christlicher Autor dichtete er einige der bedeutendsten Kirchenlieder des 20. Jahrhunderts. Wer heute ein evangelisches oder katholisches Gesangbuch aufschlägt, wird auf ihn stoßen.
Enges Bildformat
Wie ein Kammerspiel zeichnet Regisseur und Drehbuchautor Benjamin Martins die letzten Stunden der Familie Klepper nach, die lieber gemeinsam in den Tod ging als getrennt zu werden. Es ist eine ergreifende, aber keineswegs untröstliche Inszenierung. Der Regisseur und Drehbuchautor findet immer neue, immer wieder überraschende Stilmittel, um innerste Gewissenbisse, Zweifel, aber auch die Hoffnung auf Erlösung äußerlich sichtbar zu machen. Dabei verdeutlichen der Regisseur und sein Kameramann Malte Papenfuss die Unfreiwilligkeit des gemeinsamen Suizids visuell von der ersten Einstellung an. Gedreht ist der Film in einem quadratischen 1:1-Format, einem unmissverständlichen Symbol für die Enge, die die Verfolgten immer mehr einschnürte und ihnen letztlich den Atem nahm. Wie Klepper anfangs seinem fassungslosen Nachbarn und Freund berichtet, legten damals in Berlin 20 bis 30 Familien in derselben Zwangslage Hand an sich. Und zwar jeden Tag.
Eine sehr heutige Botschaft
Martins’ Hommage an den christlichen Dichter enthält natürlich auch eine sehr heutige Botschaft, selbst wenn sie an keiner Stelle explizit ausgesprochen wird. Aber die zweite lange Arbeit des Nachwuchsregisseurs ist keineswegs eindimensional. Seine Warnung vor dem immer stärker aufkommenden Antisemitismus und Rechtspopulismus weitet sich zu einer berührenden Hymne auf die alles besiegende Kraft der Liebe – und zu einem stillen Hohelied auf die Menschlichkeit und ihre Grundlagen: Freiheit, Würde und Selbstbestimmung auch im Äußersten. In jeder Einstellung lässt der fast ausschließlich im selben Raum spielende Film ahnen, wie intensiv sich der Regisseur in das Leben und Werk des Dichters hineingedacht hat. Das gilt auch für die universellste aller menschlichen Fragen: Wird die Seele die Trennung vom Körper überleben und wird man sich am anderen Ufer wiedersehen? Natürlich gibt es darauf keine Antwort. Aber einem Schriftsteller kann man wohl nicht ernsthafter huldigen, als dass man sein Denken zum Anlass für eigene Suchbewegungen nimmt.
OT: „Schattenstunde“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Benjamin Martins
Drehbuch: Benjamin Martins
Musik: Max Schuller
Kamera: Malte Papenfuss
Besetzung: Christoph Kaiser, Beate Krist, Sarah Palarczyk, Dirk Waanders, Klaus Rodewald, Boris Becker
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