Im September 1963 steht nicht nur ein neues Schuljahr auf dem Voltaire Gymnasium an. Vielmehr ist es eine komplett neue Epoche, die ihren Anfang findet: Erstmals sind auf der reinen Jungenschule auch Mädchen zugelassen. Eine davon ist Michèle Magnan (Léonie Souchaud), die sich schon auf die Erfahrung freut – im Gegensatz zu ihrem Bruder Jean-Pierre (Baptiste Masseline), der ebenfalls auf die Voltaire geht und dem das alles sehr unangenehm ist. Aber auch ihr Onkel Paul Bellanger (Pierre Deladonchamps), der als Konrektor an der Schule arbeitet, ist skeptisch, ob das mit der Vermischung der Geschlechter eine so gute Idee ist. Zumal er mit seiner Frau Jeanne (Maud Wyler) auch so schon genug um die Ohren hat. Andere sind hingegen ganz glücklich über die Veränderungen, darunter Michèles Klassenkameradin Simone Palladino (Anouk Villemin), die ein Auge auf Jean-Pierre geworfen hat …
Verkaufsschlager Jugenddrama
Seit einiger Zeit schon versucht Amazon Prime Video in den lukrativen Markt der Jugenddrama-Serien einzusteigen, den Netflix so erfolgreich bedient. Ob nun Panic, Las Cumbres: Das Internat oder Cruel Summer, der Streamingdienst hat uns dieses Jahr bereits mehrere Male an Schulen mitgenommen und erzählt von den diversen Problemen und Verstrickungen der jungen Menschen dort. Dabei verbanden die besagten Beispiele übliche Coming-of-Age-Themen mit Genreanleihen, wenn es gleichzeitig um düstere Geheimnisse und die eine oder andere Lebensgefahr ging. Erste Liebe, Unsicherheit und Selbstsuche wurden so in einen Thrillerrahmen gepackt und damit leicht variiert neu verkauft.
Voltaire High: Die Mädchen kommen hantiert zwar auch mit dem einen oder anderen Geheimnis, hat aber mit den bedrohlichen Szenarien der Kollegen und Kolleginnen nichts am Hut. Stattdessen suchte sich die französische Serie eine andere Besonderheit, um in dem stark überlaufenen Bereich des Jugenddramas hervorzustechen. So nimmt uns Serienschöpferin Marie Roussin mit in die frühen 60er und erzählt von einer Schule, in der erstmals Mädchen und Jungen zusammen in eine Klasse gehen sollten. Aus heutiger Sicht ist das ein wenig irritierend, da hat sich den vergangenen 50 Jahren doch einiges getan. Und auch für die betroffenen Personen bedeutet das eine große Umstellung, wenn Lehrerschaft und Eltern, zum Teil aber auch die Jugendlichen mit der Situation erst einmal überfordert sind.
Alle gegen die Kleinen!
Das führt anfangs zu reichlich Chaos, das auch mal etwas humoristisch dargestellt wird, ohne gleich zu einer der peinlich-pubertären Klamotten zu werden. Wie macht man das zum Beispiel mit den Toiletten, wenn es bislang nur welche für die Jungs gab? Insgesamt überwiegt aber eindeutig das Drama. Voltaire High: Die Mädchen kommen nutzt dabei auch ausgiebig die Möglichkeit, auf überholte Konzepte hinzuweisen, die heute so nicht mehr durchgehen würden. Da schlagen Eltern schon mal ihre Kinder, Lehrer und Lehrerinnen missbrauchen ihre Position, um die Jugendlichen zu demütigen, den Mädchen wird strikt verboten, Make-up zu tragen. Man sei schließlich nicht auf einem Ball, sondern an einer Schule. Und dort herrsche Disziplin. Wer sich die Serie anschaut, sollte daher schon ein gewisses Frustpotenzial mitbringen, um die ständigen unwürdigen Behandlungen der jungen Menschen zu ertragen.
Wobei sie das teilweise auch allein ganz gut schaffen, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen: Wie immer, wenn mehrere Jugendliche aufeinandertreffen, wird intrigiert und gemobbt. So muss sich Henri Pichon (Nathan Parent) beispielsweise regelmäßig als Schwein beschimpfen lassen. Das geht mit den üblichen Rollenverteilungen einher. Voltaire High: Die Mädchen kommen arbeitet hier viel mit Standards. Ganz besonders übel hat es die erwachsenen Figuren getroffen. Von wenigen Ausnahmen wie Bellanger einmal abgesehen sind diese nur wenig nuanciert. Tatsächliche Persönlichkeiten findet man bei den Eltern und Lehrkörpern kaum, höchstens Graduierungen in der Abscheulichkeit.
Lohnenswerte Zeitreise
Doch auch wenn da an den Rändern zum Teil mehr drin gewesen wäre, insgesamt lohnt sich der Ausflug an die Schule. So sind die Figuren, auf die es ankommt, glücklicherweise komplexer gezeichnet. Sie haben eigene Probleme und bieten doch genügend universelle Identifikationsfläche, um gerade einem heutigen jüngeren Publikum noch einiges sagen zu können. Denn so viel sich in den 50 Jahren seither getan hat, etwa beim Umgang mit Jugendlichen, den Rechten von Frauen oder auch der Möglichkeit homosexueller Liebe: Einiges von dem, was die Charaktere hier durchleben, würden in einer kontemporären Geschichte genauso funktionieren. Bei Voltaire High: Die Mädchen kommen kommt aber noch das liebevoll gestaltete und nostalgische Setting hinzu, wenn uns die Serie mit auf eine Zeitreise nimmt. Denn auch wenn früher nicht alles besser gewesen sein mag, im Gegenteil eigentlich, hübsch anzusehen ist das allemal.
OT: „Mixte“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Alexandre Castagnetti, Edouard Salier
Drehbuch: Marie Roussin, Frédéric Faurt, Vladimir Haulet, Julie-Albertine Simonney, Clémence Madeleine-Perdrillat, Hélène Le Gal, Bertrand Marzec
Idee: Marie Roussin
Musik: Fred Avril
Kamera: Marie Spencer, Mathieu Plainfossé, Martial Schmeltz
Besetzung: Pierre Deladonchamps, Nina Meurisse, Maud Wyler, Enzo Monchauzou, Adil Mekki, Meylie Vignaud, Inès Domingo, Léonie Souchaud, Lula Cotton-Frapier, Anouk Villemin, Anne Le Ny, Gérald Laroche, Nathan Parent, Baptiste Masseline, Gaspard Meier-Chaurand
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