Jinas (Gong Seung-yeon) Leben verläuft nach einem strukturierten Tagesablauf: Sie wird vom Fernseher geweckt und macht sich auf den Weg in das Callcenter, in dem sie für ein Kreditkartenunternehmen arbeitet. Dort ist sie mit Abstand die effizienteste Sachbearbeiterin. In den kurzen Pausen raucht sie abseits von ihren Kolleginnen und auch in der Mittagspause setzt sie sich ab, um alleine essen zu können. Nach der Arbeit macht sie sich auf den Weg nach Hause, um alleine fern zu sehen und Abend zu essen. Jina ist mit ihrem Leben zufrieden. Anrufe ihres Vaters und Gespräche mit ihrem Nachbarn blockt sie konsequent ab. Als sie eine neue Kollegin anlernen soll und gleichzeitig herausfindet, dass ihr Nachbar unbemerkt mehrere Tage tot in seiner Wohnung gelegen hat, ist sie gezwungen, ihren isolationistischen Lebensstil auf den Prüfstand zu stellen. Hinzu kommt der ungelöste Konflikt mit ihrem Vater, der nicht zuletzt durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter einen immer größeren Raum in ihrem Leben einnimmt.
Ein Leben abseits der Gemeinschaft
Honjok nennt sich in Südkorea der isolationistische Lebensstil, mit dem sich immer mehr junge Südkoreaner identifizieren können. Sie essen alleine, gehen alleine aus, leben alleine und bevorzugen es, alleine zu arbeiten. Fast die Hälfte aller jungen Südkoreaner haben Elemente des Honjok-Lebensstils in ihren Tagesablauf übernommen. Den Grund für die Abkehr junger Menschen von einem gemeinschaftlichen oder familienorientierten Lebensmodell sehen Experten im zunehmenden Wettbewerb in Schule, Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt. Es scheint daher nicht von ungefähr, dass Hong Seon-euns Debütfilm in einem Callcenter spielt, bei dem im Kundengespräch jede Sekunde effizient genutzt werden will.
Ob die steigende Zahl an jungen Einzelgängern tatsächlich Schwierigkeiten haben, ihren Platz in der Mehrheitsgesellschaft zu finden, wie es eine Zeitungsmeldung im Film suggeriert, lässt Hong Seon-euns Drehbuch jedoch offen. Der Film ist bedacht darauf, keine Wertung von Jinas Leben vorzunehmen und ihrer individuellen Perspektive genügend Raum zu geben. Dabei wird der isolationistische Lebensstil nicht beworben oder kritisiert, sondern sondern möglichst wertfrei präsentiert. Die Regisseurin geht dabei mit fast schon dokumentarischer Präzision vor und nimmt dabei stellenweise Repetition und Eintönigkeit in Kauf. Dass Jinas emotionaler Wachstum dabei eher gering ausfällt, mag auf der einen Seite frustrierend sein, auf der anderen Seite bewahrt sich das Drehbuch durch die geduldige und ausführliche Erzählform den realistischen Eindruck und kreiert so Verständnis für Jinas Entscheidungen.
Kommunikation als Einbahnstraße
Immer wieder steht dabei die Art und Weise wie Jina kommuniziert im Mittelpunkt des Films. Für Gespräche mit Klienten des Callcenters, den Nachbarn und Vermietern ihres Apartmentkomplexes und mit ihrem Vater hat sie sich Vorlagen zurechtgelegt, die sie im Gespräch dann störungssicher abspult. Jina bevorzugt Kommunikation als Einbahnstraße. Nur so kann sie entscheiden, mit wem sie zu welcher Zeit spricht. Hong löst dies interessant: Die Kameraeinstellungen beschränken sich vor allem auf Nahaufnahmen von Jina und dem, was sie unmittelbar sieht. Weitwinkelaufnahmen sind im Film dagegen Mangelware. Auch das Sounddesign ist vollständig auf Jinas Perspektive eingestellt. Die Kopfhörer, die sie fast durchgehend trägt, dämpfen Geräusche in ihrer Umwelt und können erst klar wahrgenommen werden, wenn auch Jina ihre Kopfhörer herausnimmt. Und auch Gong Seun-yeons Darstellung von Jina lässt schnell vergessen, dass es sich bei Aloners tatsächlich um einen Spielfilm und nicht um eine Dokumentation handelt.
Obwohl Aloners bereits 2019 gedreht wurde, gewinnt das Drama nicht zuletzt durch die COVID-19-Pandemie, die viele Menschen weltweit in die Isolation gezwungen hat, zusätzlich an Relevanz und Identifikationspotential. Aloners ist ein interessantes und präzises Portrait des Alleinseins. Der Film mag zwar keine Antworten darauf geben, wie ein glückliches Leben mit einem Minimum an sozialen Kontakten auszusehen hat, gibt aber einen interessanten, realistischen und wertfreien Einblick in einen möglichen Lebensentwurf. Das detaillierte Drehbuch von Debütantin Hong Seong-eun überzeugt dabei genauso wie die spannenden technischen Einstellungen.
OT: „Honja saneum saramdeul“
Land: Südkorea
Jahr: 2021
Regie: Seong-eun Hong
Drehbuch: Seong-eun Hong
Musik: Min-ju Lim
Kamera: Youngki Choi
Besetzung: Seung-yeon Gong, Da-eun Jeong, Hyun-Woo Seo
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Filmfest Hamburg 2021
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