Die Stimme eines Menschen, ein Gesang oder ein Lied kann sprichwörtlich Berge versetzen, eine Brücke zu einer Erfahrung schaffen, die uns vielleicht bislang verborgen blieb. So ähnlich hat es zumindest die US-amerikanische Linda Lipnack Kuehl erlebt, als sie in den 1960er Jahren, viele Jahre nach dem Tod der Sängerin, zum ersten Mal die Songs von Billie Holiday hörte. In einem Jahrzehnt, geprägt von den Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King und den aufrührerischen Reden eines Malcolm X erzählte Holiday in ihren Songs wie „Strange Fruit“, „God Bless This Child“ oder „My Man“ von den Sehnsüchten sowie dem Alltag der Afroamerikaner und von der Grausamkeit der Lynchjustiz, insbesondere in den Südstaaten der USA. Als Anhängerin der Protestbewegung der 60er fand Kuehl in der Stimme Holidays eine Sicht auf ein Leben, auf Sinnlichkeit und auf Liebe, die sie so beschäftigte, dass sie beschloss eine Biografie über die Sängerin zu schreiben, ein Vorhaben, welchem sie acht Jahre ihres Lebens opferte, doch welches sie nicht fertigstellen sollte.
Als Kuehl 1978 starb, hinterließ sie nicht nur ein unvollständiges Skript zur Biografie, sondern auch ihr ganzes Recherchematerial, unter anderem Interviews mit Familie, Freunden und Musikerkollegen. Jedoch konnte das Material gerettet werden und bildet nun die Grundlage von Billie – Legende des Jazz, einer Dokumentation des britischen Regisseurs James Erskine (Le Mans: Racing Is Everything), welche auf dem Filmfest Hamburg 2020 Deutschland-Premiere feierte. Mittels der bereits erwähnten Tonbänder, der unfertigen Biografie Kuehls sowie einer ganzen Reihe von Archivmaterial aus dem Leben Billie Holidays sowie von Kuehl selbst, erzählt Erskines Dokumentation von einem bewegten Leben für die Musik, von einer großen Passion für die Kunst, doch auch von dem tragischen Ende zweier Frauen.
Eine Stimme, die dem Ghetto entkommt
Berücksichtigt man die Biografie einer Künstlerin wie Billie Holiday besteht durchaus die Gefahr innerhalb eines Filmprojekts, die Geschichte eines Opfers zu erzählen. Auch die Biografie Kuehls liest sich oberflächlich gesehen wie eine solche Erzählung, stand sie doch, ähnlich wie Holiday, unter enormen Druck von Außen. Jedoch greift diese Lesart auf diese beiden Geschichten gesehen und damit auch auf Erskines Film gesehen nicht, denn vor allem geht es um das Finden einer Stimme sowie das Erheben über die Wirklichkeit durch diese. Neben der Chronologie eines Lebens befasst sich ein Großteil der Dokumentation mit jener Faszination, die von einer Stimme wie der Holidays ausgeht, die es nicht nur schaffte, sich mit dieser von der teils erdrückenden Lebenswirklichkeit zu emanzipieren, sondern auch die Grausamkeit der Lynchjustiz in einem Song wie „Strange Fruit“ thematisiert in einer Weise, die für Publikum wie für die Sängerin selbst emotional unerträglich war.
Ansonsten vereinigt sich in Billie – Legende des Jazz diese Sammlung an Stimmen, die wir Boten einer längst vergangenen Zeit von dem Leben der Sängerin berichten. Immer wieder stößt man, wie auch Kuehl als Interviewerin, auf Widersprüche, Anfeindungen oder andere Versionen eines Menschen, der auf der einen Seite klar definierbar war, doch dann wieder eine Chiffre für ihre Umwelt. Auch wird Kuehl immer wieder vorgeworfen, wie sie sich erdreisten könne, über das Leben einer afroamerikanischen Sängerin als Weiße zu schreiben – eine Aussage, die Kuehl während der acht Jahre ihrer Recherche nicht mehr loslassen wird und zu einem zentralen Konflikt mit dem Gegenstand ihres Werkes führen wird.
OT: „Billie“
Land: UK
Jahr: 2019
Regie: James Erskine
Musik: Hans Mullens
https://www.youtube.com/watch?v=1hKydc9BatE
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