In einer afrikanischen Großstadt fährt ein junger Mann mit dem Fahrrad durch die lauten Straßen und transportiert dabei eine blökende Ziege auf seinem Rücken – mit diesem Bild wird man völlig abrupt in Die Verschwundene hineingeworfen, bevor ein ebenso abrupter Szenenwechsel erfolgt: Wir befinden uns nun in den verschneiten Weiten des französischen Zentralmassivs. Ein Sturm fegt über die Landschaft hinweg. Der allein auf seinem Hof lebende Joseph (Damien Bonnard) erhält Besuch von Alice (Laure Calamy), die ihm ein wenig nachbarschaftliche Hilfe in juristischen Fragen zukommen lässt. Dass die beiden anschließend auch Sex haben, darf natürlich Alices Mann Michel (Denis Ménochet, den die meisten wohl aus der Eröffnungsszene von Inglourious Basterds kennen) nicht wissen. Sowohl Alice als auch Jospeh bekommen wenig später Besuch von der Polizei. In der Nähe wurde ein verlassenes Auto am Straßenrand aufgefunden. Die Besitzerin, eine in der Gegend wohnende Frau, scheint spurlos verschwunden zu sein.
Eine Spurensuche aus verschiedenen Perspektiven
Soweit also die Ausgangssituation des Films. Wer die im deutschen Titel gemeinte „Verschwundene“ ist, wird jedenfalls ziemlich schnell klar. Was der eingangs gezeigte junge Mann in Afrika allerdings damit zu tun hat, bleibt erst einmal im Dunkeln. Der Film wird später noch darauf zurückkommen. Zunächst beginnt die Handlung als klassischer Thriller. Düstere, schneebedeckte Häuser und Straßen, eine Kleinstadt in der sich alle kennen und eine verschwundene Person – beste Voraussetzungen für einen Krimi, in dem polizeiliche Ermittlungen schließlich die Hintergründe eines Verbrechens aufdecken. Doch eben dies steht in hier keineswegs im Vordergrund der Erzählung.
Der Film basiert auf Colin Niels Roman Nur die Tiere und hat von diesem auch die Erzählstruktur übernommen: Die Handlung ist in verschiedene Segmente eingeteilt, die jeweils aus der Perspektive einer anderen Figur erzählt werden. In der zweiten Hälfte des Films wird dieses Stilmittel zwar nicht mehr konsequent durchgehalten, es führt insgesamt aber dazu, dass sich der Blick aufs große Ganze hier nur langsam entfaltet und der Film einige Überraschungen für den Zuschauer bereithält. Die ersten zwanzig Minuten sind etwa (abgesehen von der Eröffnungsszene) konsequent aus der Sicht von Alice erzählt. Danach springt der Film in der Zeit zurück und zeigt uns Josephs Sicht auf die Dinge.
Neue Fragen an jeder Ecke
Obwohl die einzelnen Kapitel also zum Teil dieselben Ereignisse schildern, fördern sie doch gleichzeitig auch neue Informationen zutage und lassen das zuvor Gesehene in neuem Licht erscheinen. Zugleich stellen sich aber auch neue Fragen. Stammen etwa Jospehs Verletzungen wirklich von einer Schlägerei mit Alices eifersüchtigem Mann, wie Alice zunächst annimmt? Die aufeinander bezogenen Segmente des Films beantworten früher in der Geschichte aufgeworfene Fragen, fügen neue Mysterien hinzu und sorgen immer wieder für Aha-Momente und damit wohlige Befriedigung beim Zuschauer, wenn man durch die zusätzlichen Informationen mal wieder ein Rätsel gelöst hat. Man kann Die Verschwundene mit einer auf zwei Stunden komprimierten Serienstaffel vergleichen, bei der jede Episode der vorhergehenden sowohl neue Fragen als auch Antworten hinzufügt. Tatsächlich würde sich der Stoff wunderbar für eine Verfilmung als Miniserie eignen, in der man jede Folge aus einer anderen Perspektive erzählen könnte. Aber da wohl kaum jemand noch die Zeit haben dürfte, alle neuen, sehenswerten TV-Serien anzuschauen, ist es durchaus praktisch, dass die Geschichte nun als kompakter Spielfilm vorliegt.
Als solcher ist Die Verschwundene jedenfalls hervorragend geworden. Statt eines Verbrechens und dessen Aufklärung stehen hier die Figuren und ihre Beziehungen im Mittelpunkt. Was alle Charaktere des Films gemeinsam haben, ist ihre Sehnsucht nach Nähe und Liebe. Meist dient ihnen genau diese als Motivation ihrer Handlungen – ganz egal, ob sie sich zum außerehelichen Geschlechtsverkehr treffen, online mit Fremden chatten oder sich in scheinbar aussichtslose Affären stürzen. Auch wenn es eben zunächst nicht den Anschein hat, hängen die teilweise an ganz unterschiedlichen Orten spielenden Handlungsstränge alle zusammen und beeinflussen sich zum Teil stark gegenseitig. Man kann natürlich kritisieren, dass dabei der Zufall ein paar Mal vielleicht eine zu große Rolle spielt. Man kann aber auch sehr großen Spaß daran haben, wie sich hier nach und nach einzelne Teile zu einem großen Ganzen zusammenfügen und man sich dabei selbst den Lauf der Ereignisse zusammen puzzeln kann.
Spannend und stimmungsvoll
Regisseur Dominik Moll hat den Film spannend, stimmungsvoll und trotz aller Zeit- und Ortsprünge in sich stimmig inszeniert, sodass die übergreifende Handlung nie aus dem Fluss gerät. Sämtliche Darsteller überzeugen in ihren Rollen, darunter auch einige Laiendarsteller, die noch nie zuvor als Schauspieler gearbeitet haben. Neben Valeria Bruni Tedeschi (Sommer 85, 5×2 ) in einer zwar kleinen, aber wichtigen Rolle überzeigt daneben vor allem Denis Ménochet als sich in eine letztlich nur eingebildete Liebesaffäre stürzender Ehemann in der Midlife-Crisis in einigen wunderbar zwischen Komik und Tragik schwankenden Szenen.
Bis zum Schluss erhält Die Verschwundene dank seiner cleveren Erzählstruktur die Spannung aufrecht und sorgt für neue Wendungen. Zwar ist die Botschaft von einer globalisierten Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und selbst kleine Ereignisse den Lauf der Dinge in einem fernen Land beeinflussen können, sicher nicht neu. Verbunden mit der Kriminalhandlung und der gekonnten, stimmungsvollen Inszenierung ergibt sich daraus aber ein einzigartiger und äußerst sehenswerter Film.
OT: „Seules Les Bêtes“
Land: Frankreich, Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Dominik Moll
Drehbuch: Gilles Marchand, Dominik Moll
Vorlage: Colin Niel
Musik: Benedikt Schiefer
Kamera: Patrick Ghiringhelli
Besetzung: Denis Ménochet, Laure Calamy, Damien Bonnard, Nadia Tereszkiewicz, Valeria Bruni Tedeschi
https://www.youtube.com/watch?v=45mofqtaMUQ&feature=emb_title
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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César | 2020 | Bestes adaptiertes Drehbuch | Gilles Marchand, Dominik Moll | Nominierung |
Beste Nebendarstellerin | Laure Calamy | Nominierung |
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