Hans (Franz Rogowski) ist schwul. Was im gegenwärtigen Deutschland in den meisten Fällen kaum der Rede wert wäre, ist im Westdeutschland der Nachkriegszeit der Grund für immer wiederkehrende Haftstrafen. Nach dem Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs sind sexuelle Handlungen unter Männern strafbar. Sich zu verstecken oder seine Sexualität zu verheimlichen, ist für Hans allerdings keine Option. Dementsprechend ist Hans darauf angewiesen, im Gefängnis ein Arbeits-, Sozial- und Liebesleben aufzubauen. Doch der Grund für Hans Inhaftierung ist den Wärtern und Mitgefangenen bekannt, die ebenso wie die Gesellschaft außerhalb der Gefängnismauern ein Problem damit haben, wen und wie Franz liebt.
Staatliche Verfolgung von Homosexuellen
Mehr als hunderttausend Männer wurden nach dem Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches zwischen seiner Einführung im Januar 1872 und seiner endgültigen Streichung mehr als hundert Jahre später, im Juni 1994, verurteilt. Im Nationalsozialismus diente der Paragraph als Rechtfertigung für die systematische Verfolgung und Inhaftierung von Homosexuellen. Mindestens 5.000 wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, mehrere Tausend von ihnen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Einen Anlass zur Streichung oder Überarbeitung des Paragraphen wurde in den Westdeutschen Besatzungszonen, wie auch später in der neugegründeten Bundesrepublik, nicht gesehen. Auch gegenwärtig wird die jahrzehntelange systematische Ausgrenzung Homosexueller in Deutschland nur wenig thematisiert. Erst seit 2017 zahlt der deutsche Staat Menschen, die aufgrund des §175 inhaftiert wurden, eine Entschädigung aus. Für die meisten dürfte diese Entscheidung einige Jahre zu spät kommen. Sebastian Meises Film leistet nun einen wichtigen Beitrag dazu, den Geschädigten Gehör zu verschaffen.
Große Freiheit ist ein Zeugnis der Geschichte des Paragraphen in der Bundesrepublik nach dem Nationalsozialismus. Obwohl Hans’ (Über-)leben im Gefängnissystem im Mittelpunkt des Films steht und sein Alltag teilweise fast minutiös beschrieben wird, kann die Geschichte als Beispiel für die der vielen homosexuellen Männer, die unter dem Paragraphen inhaftiert waren, gesehen werden. Erzählt wird die Geschichte auf drei verschiedenen Zeitebenen. Immer wieder springt die Handlung zwischen Hans’ Gefängnisalltag unmittelbar nach der Kapitulation der Nationalsozialisten 1945 und den Jahren 1957 und 1968. Die turbulente Zeit der jungen Bundesrepublik in den Fünfzigern und die sexuelle Revolution der Sechziger scheint vor den Gefängnismauern allerdings halt zu machen. Im Gefängnis selbst ist davon wenig zu zu merken, abgesehen von dem ein oder anderen Tapetenwechsel und wechselnden Bart- und Haarmoden lassen sich nur wenig Unterschiede zwischen den verschiedenen Ebenen erkennen. Die Brutalität der Wärter, die Ablehnung und der Hohn von Hans Mitinsassen bleibt auch nach Jahrzehnten Inhaftierung unter §175 die gleiche.
Einblicke in ein trübseliges Leben
Im Mittelpunkt des Films steht damit Hans’ Überleben im Gefängnissystem und die ständige Auseinandersetzung mit der ungerechten Haftstrafe. Ganz selten schafft es Hans, auch innerhalb des Gefängnismauern, Zärtlichkeit und Liebe zu erleben. Trotz mühsamer Vorbereitung dauern auch diese oft nur einen kurzen Moment an. Nur fragmenthaft lässt sich überhaupt erahnen, dass es für Hans und seine Mitinsassen ein Leben außerhalb des Knasts gibt. Grau, Dunkelblau und Schwarz dominieren das Szenenbild, immer wieder spielen sich Szenen in vollständiger Dunkelheit ab. Über weite Strecken macht das Große Freiheit zu einem trübseligen Drama. Umso mehr stechen die wenigen Lichtblicke als besonders starke Szenen hervor. Die Erinnerung an einen Ausflug mit dem Freund an den See, eine fliehende Berührung unter den Häftlingen oder Solidarität in Form von Zigaretten und Streichhölzern bewahren Große Freiheit vor der absoluten Trostlosigkeit. Dass an Darstellungen glücklichen schwulen Lebens im Nachkriegsdeutschland gespart wird, mag auf der einen Seite schade sein, unterstreicht im Film aber auch die prekäre Lebenslage der unter §175 verfolgten Männer.
Besonders bemerkenswert sind die schauspielerischen Leistungen der beiden Hauptdarsteller im Film. Franz Rogowskis authentische Darstellung vom gutmütigen, naiven und unnachgiebigen Hans ist das Herzstück des Films. Besonders eindrucksvoll zeigt sich Rogowskis schauspielerisches Können in gemeinsamen Szenen mit Hans Zellennachbar Viktor. Viktor sitzt eine jahrzehntelange Haftstrafe ab und stellt damit eine weitere Kontinuität in Hans’ Gefängnisalltag dar. Gespielt wird Viktor von Georg Friedrich, der in der vollkommen antithetisch zu Hans geschriebenen Rolle des harten, verschlossenen Viktors geradezu aufgeht und damit einen weiteren Höhepunkt des Films ausmacht. Vollkommen zurecht wurde Friedrichs Schauspielleistung beim Filmfestival in Sarajewo mit dem Preis für den besten Schauspieler ausgezeichnet. Seine Premiere feierte Große Freiheit bei den Filmfestspielen in Cannes 2021 in der Sektion „Un Certain Regard“, in der der Film prompt den großen Preis der Jury gewann. In diesem Winter kommt der Film schließlich in Deutschland in die Kinos. Die große Leinwand verdient Sebastian Meises bewegendes Historiendrama über eine Geschichte, die in Deutschland bisher nur wenig Aufmerksamkeit genossen hat, in jedem Fall.
OT: „Große Freiheit“
Land: Österreich, Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Sebastian Meise
Drehbuch: Sebastian Meise, Thomas Rieder
Musik: Nils Petter Molvaer
Kamera: Crystal Fournier
Besetzung: Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Europäischer Filmpreis | 2021 | Bester Darsteller | Franz Rogowski | Nominierung |
Beste Musik | Nils Petter Molvær, Peter Brötzmann | Sieg | ||
Beste Kamera | Crystel Fournier | Sieg | ||
European University Film Award | Nominierung |
Cannes 2021
Zurich Film Festival 2021
Filmfest Hamburg 2021
Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2021
Exground 2021
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