Janna Ji Wonders
Regisseurin Janna Ji Wonders (© Michael Reusse)

Janna Ji Wonders [Interview)

Mit Walchensee Forever hat Nachwuchsregisseurin Janna Ji Wonders ein erstaunlich reifes Langspieldebüt vorgelegt. Die ebenso spannende wie berührende Auseinandersetzung mit den starken Frauen in ihrer Familie reflektiert zugleich ein ganzes Jahrhundert, in dem mehrere Generationen von Zuschauerinnen und Zuschauern Anknüpfungspunkte für ihre eigene Geschichte finden können. Es geht etwa um die Weltkriege und wie sie die Väter physisch und psychisch versehrten, aber auch um das selbstbestimmte Leben der Frauen in Abwesenheit der Männer. Eine zentrale Rolle im Film spielt Anna Werner, die Mutter von Janna Ji Wonders. Sie gehörte zur Protestgeneration der Hippies mit ihrer Suche nach Selbstverwirklichung, die bis heute nachwirkt. Wir sprachen anlässlich des Kinostarts am 21. Oktober 2021 mit Janna Ji Wonders, die wir über Telefon am Walchensee erreichten, über Familientraumata, die Suche nach den eigenen Wurzeln und die aufwändige Recherche in einem Materialberg von Fotos, privaten Filmen, Briefen und Tonbändern.

Zu Beginn Ihres Films sehen wir Sie als Kind, das von seiner Mutter gefilmt wird und das sich mit Blumen im Haar als Fee vom Walchensee vorstellt. Dann aber dreht das Kind den Spieß um und will selber Fragen stellen und eine Kamera halten. Welche Bewandtnis hat es damit?

Das war ein kindliches Spiel und mein Film setzt genau da an, wo wir damals in meiner Kinderzeit aufgehört haben. Ich wollte mit meiner Mutter wieder in dieses spielerische Gefühl kommen. Im Grunde habe ich den Film schon als Kind begonnen, ich wusste es nur nicht. Erst nach der Filmhochschule war ich bereit, diesen Film zu machen, weil mir klar war, dass es eine große emotionale Herausforderung werden würde. Als meine Oma schon 104 Jahre alt war, wusste ich, jetzt oder nie.

Wurden damals schon die Wurzeln zu Ihrem Berufswunsch gelegt?

Ich hatte angefangen mit Fotografie, wie meine Mutter. Aber ich wollte einen Schritt weitergehen, nämlich Filme machen, und habe mich dann an der Filmhochschule beworben. Die Liebe zum filmischen Erzählen kommt vielleicht auch daher, weil meine Mutter ebenfalls Filme drehen wollte, sich das aber selbst nie zugetraut hat.

Feen kommen aus einer Zauberwelt. Hat der Walchensee für Sie auch heute noch etwas Magisches?

Auf jeden Fall. Der Walchensee ist für die Frauen in meiner Familie schon immer ein Zufluchtsort gewesen. Meine Urgroßmutter war diejenige, die den Walchensee für sich entdeckt hat. Es war der einzige Platz, an dem sie Trost gefunden hat, nachdem ihre jüngere Tochter 1918 an der Spanischen Grippe gestorben war. Über die tote Tochter wurde dann nicht mehr gesprochen, es wurde sich in die Arbeit gestürzt. Doch das Trauma war omnipräsent. Meine Oma, die überlebende andere Tochter, hat ihr ganzes Leben pflichterfüllt im Café verbracht. Aber der See hat ihr auch Kraft gegeben. Das erlebe ich auch so. Es war mir wichtig, dass der See im Film wie ein eigener Protagonist gezeigt wird, als stiller Zeuge all der menschlichen Dramen.

Ab welchen Zeitpunkt war ihnen klar, dass in dem privaten Stoff etwas liegt, mit dem ganz viele Menschen etwas anfangen können?

Natürlich ist es ein Wunsch, den Stoff für eine universelle Dimension zu öffnen. Aber man kann nie vorhersehen, dass das wirklich so eintreten wird bei den Zuschauern. Für meine Mutter war manchmal die Frage, wie erzählen wir das und wie schaffen wir es, aus dem nur Privaten herauszukommen? Und wie sollen wir überhaupt 90 Minuten füllen? Ich war da hartnäckig. Denn es gehört zum Prozess dazu, dass es eine ständige Suchbewegung gibt, wie man einen Film erzählen will. Das ist nicht von Anfang an klar, es ergibt sich, in diesem Fall erst im Schneideraum. Das Ziel war, dass der Film etwas in Menschen auslöst und sie sich Fragen stellen, die ihre eigene Familie betreffen, und vielleicht etwas aus der Tiefe hochholen und anschauen wollen. Erfreulicherweise habe ich dieses Feedback bekommen, auch vorgestern Nacht wieder auf der Berlin-Premiere, wo mir Menschen erzählt haben, dass sie sich selbst darin wiederfinden konnten.

Einen gewissen Rückenwind hat Ihr Film durch die Berlinale bekommen. Sie waren 2015 in der Berlinale-Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ mit Ihrem Kurzfilm I Remember vertreten und haben im Jahr darauf den Wettbewerb gewonnen, in dem alle Regisseurinnen und Regisseure des Vorjahres aufgefordert werden, Ideen und Skizzen für ihren nächsten Film vorzustellen. Wie sehr haben Sie damals für Walchensee Forever gebrannt, um sich gegenüber der Konkurrenz durchzusetzen?

Ich habe dafür gebrannt, wusste aber noch nicht, inwieweit der Stoff auch andere interessiert. Durch den Förderpreis habe ich gespürt: In der Geschichte ist Potenzial und sie muss unbedingt erzählt werden. Wenn andere etwas in meiner Idee sehen, dann brenne ich noch mehr und habe den Ansporn, das jetzt wirklich zu machen. In diesem Zusammenhang habe ich auch meine Produktionsfirma kennengelernt. Dann ging alles sehr schnell, wir haben Filmförderung bekommen und einen Sender gefunden.

Trotzdem dauerte die Fertigstellung noch bis 2020. Warum?

Die Gespräche mit meiner Mutter fanden nicht nur innerhalb einer Woche statt, das hat sich über einen längeren Zeitraum gezogen. Hinzu kam der Umgang mit dem Archivmaterial. Im Speicher des Cafés habe ich in Kisten und Schuhschachteln unzählige Berge von Fotos, Filmen und Videos in ganz unterschiedlichen Formaten gefunden, VHS, Super 8, Mini-DV und Tonbänder. Meine Mutter hat alles aufbewahrt, aber ich war diejenige, die das digitalisiert und geordnet hat, nach Jahreszahlen und Namen der Familienmitglieder. Das waren acht Terabyte auf einer großen Festplatte. Außerdem habe ich eine Familienchronologie geschrieben, um mir überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Meine Cutterin Anja Pohl war ein wichtiger Gradmesser für das, was wesentlich ist. Ihr klarer, konzentrierter Blick von außen hat uns davor bewahrt, in den Materialbergen zu versinken.

Wie lange hat der Schnittprozess gedauert und wie viele Fassungen gab es?

Der eigentliche Schnittprozess hat ein dreiviertel Jahr gedauert. Aber während sich meine Cutterin im Schneideraum schon an einen Teil des Materials herangetastet hat, habe ich am Walchensee noch gedreht. Und als sie im Thema drin war, haben wir uns ständig ausgetauscht. Auch darüber, was noch fehlt, um die Geschichte voranzutreiben, sei es an Gesprächen mit meiner Mutter, an Fotos, die ich gezielt herausgesucht habe oder auch an Briefauszügen. Bevor wir eine erste Schnittfassung hatten, hangelten wir uns an Themenblöcken entlang. Erst nach einem halben Jahr hatten wir eine Fassung von drei bis vier Stunden, die dann natürlich gekürzt werden musste.

Ich würde gern noch einmal auf den Rollentausch zurückkommen, über den wir ganz am Anfang gesprochen haben. Indem Sie als Erwachsene einen Film über Ihre Familie machen, sind Sie diejenige, die das Heft in die Hand nimmt und diejenige, die nachbohrt. In jeder Familie gibt es Dinge, über die man nicht spricht und als Kind spürt man das intuitiv und passt sich an. Aber jetzt waren Sie erwachsen und haben Fragen gestellt. Wie haben Sie diesen Rollentausch empfunden?

Meine Oma hat einfach mitgemacht, aber meine Mutter wusste, dass es diesmal ans Eingemachte geht. Es hat eine Zeit gebraucht, bis sie offener und durchlässiger wurde. Anfangs hatte ich einen Kameramann und einen Tonmann dabei und ich merkte, meine Mutter ist immer sehr vorbereitet. Davon wollte ich weg. Erst als ich Ton und Kamera selbst gemacht habe, kamen wir wieder in die Offenheit und das Spielerische von früher. Die Briefe und Texte habe ich ihr erst vor laufender Kamera vorgelesen, um ihre spontane Reaktion zu bekommen. Der Prozess war für sie manchmal schmerzlich, vor allem wenn es um ihre Schwester Frauke ging, die unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben kam. Frauke war wie ein Irrlicht, das über unserer Familie schwebte. Das habe ich schon als Kind gespürt. Sie war auch ein Schlüssel zu diesem Film, mit ihrer Sehnsucht und ihrer exzessiven Suche. Durch die Gespräche sind wir beide, meine Mutter und ich, Frauke noch einmal nähergekommen. Am Ende war meine Mutter überrascht, im fertigen Film so klar die Essenz ihres Lebens zu sehen. Es ist ein befreiendes Gefühl für uns beide, diesen Weg gegangen zu sein. Verdrängte Dinge wurden ins Bewusste gehoben.

Walchensee Forever
Szenenbild aus „Walchensee Forever“ (© Flare Film)

Wenn man seine Familiengeschichte erforscht, sucht man auch nach den eigenen Wurzeln. Was haben Sie gefunden?

Mir wird durch den Film erst einiges klar, auch für mein Leben. Ich denke, dass es so etwas wie ein Familiengedächtnis gibt, das sich fortschreibt. Mich hat das geprägt, die Suche der Frauen in meiner Familie, die Verbundenheit von Müttern und Töchtern, die generationsübergreifenden Verstrickungen, die vererbten Sehnsüchte und Traumata. Indem man sich das bewusst macht, kann man auch seinen eigenen Weg finden.

Die beiden wichtigsten Frauen im Film, Ihre Oma und Ihre Mutter, haben ganz unterschiedliche Haltungen zur Welt. Ihre Oma ist quasi immer am Walchensee geblieben, aber Ihre Mutter wollte hinaus in die Welt. Wo stehen Sie persönlich zwischen diesen beiden Polen?

Für meine Oma stand eine Berufswahl gar nicht zur Debatte. Die einzige kleine Rebellion gegen ihre Eltern war die Wahl ihres Ehemannes, der Künstler war. Das Café war zwar eine Pflicht, aber es hat ihr auch eine finanzielle Unabhängigkeit gebracht. Ihren Töchtern hat sie große Freiheiten gelassen, vielleicht weil sie sich selbst keine Freiheiten zugestanden hat. Bei meiner Mutter ist es anders. Sie wollte Ende der 1960er Jahre, als es diese Aufbruchsstimmung gab und man die Eltern in Frage stellte, raus aus der dörflichen Enge. Sie hat aber das Dorf nie ganz hinter sich gelassen, sondern kam immer wieder zurück an den Walchensee. Den Tod von Frauke hat sie immer mit sich getragen und mit ihren Fragen befand sie sich auf einer ewigen Sinnsuche. Im Gegensatz zu meiner Mutter und Oma habe ich alle Möglichkeiten. Ich empfinde keine Pflicht gegenüber dem Café und habe nicht den Drang, mich aus einer Enge zu befreien. Mein Bedürfnis ist, mich innerlich weiter zu entwickeln. Ich gehe dahin, wo meine Arbeit und mein Leben mich hinführen. Trotzdem bleibt der Walchensee eine Home Base.

Sie sind auch Musikerin und Sängerin. Sind sie in dem Bereich noch aktiv oder liegt das ein wenig auf Eis?

Durch den Film lag das tatsächlich auf Eis, weil der Film so eine Mammutaufgabe war. Aber ich habe mir in Amerika eine Autoharp gekauft. Das Instrument spielt in der Bluegrass-, Folk- und Country-Musik eine Rolle. Das will ich wieder aufgreifen und auch neue Texte schreiben.

Ihr Film ist, wie so viele andere, durch die Pandemie etwas ausgebremst worden. Wie haben sie die Wartezeit gefüllt?

Ich arbeite an mehreren Themen. Aber gerade schreibe ich besonders an einem Drehbuch für einen Spielfilm. Es ist wieder eine persönliche Geschichte, eine Geschichte aus meinem Leben in fiktiver Form.

Zur Person
Janna Ji Wonders wurde in Mill Valley, Kalifornien, geboren. Ihre Mutter Anna Werner lebte damals mit dem Amerikaner Jazon Wonders, Jannas Vater, in einer Kommune. Im Alter von vier Jahren zog Janna mit der Mutter zurück nach Deutschland. Sie wuchs in München-Schwabing und am südlich von München gelegenen Walchensee auf, unterbrochen von weiteren Aufenthalten bei ihrem Vater in Amerika. Während des Studiums an der Hochschule für Fernsehen und Film München begann sie, musikalisch mit Laptop und Midi-Keyboard zu experimentieren, und schrieb erste eigene Songs. Mit ihrer Band YA-HA! veröffentlichte sie ein Debütalbum. Walchensee Forever ist nach mehreren Kurzfilmen ihr filmischer Durchbruch. Er gewann u.a. den „Bayerischen Filmpreis“, den „Deutschen Kamerapreis“ und den „Kompass-Perspektive-Preis“ der Berlinale-Sektion „Perspektive Deutsches Kino“.



(Anzeige)