Was zunächst als eine Krise der Kulturindustrie begann, wurde in den 1960er Jahren langsam aber sicher zu einem weltweiten Prozess des Umdenkens und der Neudefinition von Werten, unter anderem auch motiviert durch die politische Umwälzungen und Ereignisse dieses turbulenten Jahrzehnts. Nicht nur in den USA, auch in Japan, der Tschechischen Republik oder in Deutschland fand das Aufbegehren der jüngeren Generation gegen die Werte der althergebrachten Traditionen mehr als nur eine Stimme und trug teils sogar zu einer Radikalisierung der Jugend- und Studentenbewegungen bei.
Diese Prozesse schlugen sich in der Literatur, der Kunst, den Filmen wie auch der Musik nieder, die zwar erst mit der Zeit, dann aber auch einen Schlag so viel anders war als zuvor, unter anderem natürlich auch wegen der wirtschaftlichen Umstrukturierung ganzer Industriezweige, was den Weg ebnete für Bewegungen wie die Nouvelle Vague oder das New Hollywood. In der Musik galten neben den Beatles und den Rolling Stones spätestens zu Beginn der 1970er Jahre auf einmal Bands wie The Doors oder Musiker wie Jimi Hendrix, Curtis Mayfield und Marvin Gaye auf dem Programm, die nicht nur an alte Trends innerhalb ihrer Musik anknüpfen, sondern zudem Themen wie die Drogenkultur, den Feminismus, den Rassismus sowie den Vietnamkrieg aufgriffen und somit in die Wohnzimmer von Tausenden von Familien brachten.
In diesem Kontext spielte gewiss eine Band wie The Velvet Underground eine besondere Rolle. Spätestens nachdem der Künstler Andy Warhol die Gruppe unter seine Fittiche genommen hatte und deren Manager geworden war, erlebten die Musiker der Band, Lou Reed, John Cale und Sterling Morrison und Moe Tucker ihre kreative Blüte und gingen auf im Kontext jener Kunstbewegung, die sich unter dem Deckmantel der von Warhol begründeten Factory verbarg. So schnell wie ihr Aufstieg vonstattenging, so schnell war auch ihr Niedergang in den 1970er Jahren, jedoch ihr musikalisches Erbe sollte noch lange andauern, wie eine 2017 durchgeführte Studie der Musikdatenbank AllMusic ergab, welche The Velvet Underground und ihre Musik als eine der meistzitierten Künstler und Hauptinspirationsquelle für andere Musiker nannte. Etwa zur gleichen Zeit stand Regisseur Todd Haynes (Carol, Vergiftete Wahrheit) in Verhandlung für eine Dokumentation über die Band, ihre Geschichte und ihren Einfluss auf andere Künstler. Lange Zeit haben Recherche und Aufnahmen für das von Apple produzierte Projekt in Anspruch genommen, welches nach seiner Weltpremiere auf den Filmfestspielen in Cannes nun zeitgleich auf dem Streamingdienst Apple TV+ sowie im Kino anläuft.
Die Angst ist kein Problem
Über die Qualität der Musik an sich oder den Gesang ihrer Frontfrau Nico, welche die Band zeitweise begleitete, mag man streiten, nicht aber über das, wofür The Velvet Underground stehen und was das Fundament von Haynes’ Dokumentation bildet. Neben zahlreichen Interviews von Zeitzeugen, zu denen neben Bandmitgliedern wie John Cale auch Musikerkollegen und Freunde gehören, sind es Archivaufnahmen, welche neben Gigs oder Proben der Band an sich auch die Entwicklung der Factory begleiten, Haynes’ Film ausmachen. Der visuelle Ansatz, welcher beispielsweise die Biografie eines Bandmitglieds mit einer Aufnahme aus der Factory gegenüberstellt, mag dabei als Ergänzung zu jenem avantgardistischen Ansatz stehen, der The Velvet Underground bis heute ausmacht. Dabei geht es nicht alleine darum Musik zu machen, wie sie vorher bereits gemacht wurde, Themen und Theorien zu bedienen, sondern diese nach vorne zu bringen, weiterzudenken oder gänzlich über den Haufen zu werfen, ganz im Sinne eines kreativen Dekonstruktivismus.
An einer Stelle bringt Cale vieles in der fast zweistündigen Dokumentation auf den Punkt, wenn er davon spricht, dass es einem Lernprozess gleicht, sich nicht vor der Improvisation zu fürchten und welche Ergebnisse diese mit sich bringen wird, sondern im Gegensatz diese Entwicklung zu akzeptieren. Auch wenn sich Haynes bisweilen in den politischen wie sozialen Umwälzungen der Zeit verheddert, ist gerade der Fokus auf die Komposition der Musik, ihrer Themen wie auch ihrer Intentionen das Besondere an The Velvet Underground. Mag auch gerade für Musikfreunde und Musiker an sich vieles nicht Neues sein, so gelingt es Haynes nachzuvollziehen, worin der Reiz einer Band wie The Velvet Underground auf heutige Künstler liegt.
OT: „The Velvet Underground“
Land: USA
Jahr: 2021
Regie: Todd Haynes
Kamera: Edward Lachman
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