Vor einigen Jahren war es schwer in Mode, dass Dokumentarfilmer ein Thema aufgriffen, in dem sie selbst vorkamen. Sie nahmen persönlich Stellung, waren als Individuen mit Haut und Haar greifbar. Danach ebbte die Welle ab. Nur noch vereinzelt gibt es heute diese Form, die immer in der Gefahr der Selbstbespiegelung steht. Ein besonders gelungenes Beispiel ist jedoch das Langfilmdebüt von Janna Ji Wonders. Und zwar deshalb, weil sie nicht nur von sich und ihrer Familie erzählt, sondern von einem ganzen Jahrhundert. Zurecht gewann der Film bei der Berlinale den Hauptpreis der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ 2020 sowie den Bayerischen Filmpreis.
Überquellendes Privat-Archiv
„Wer bist du denn“, fragt die Mutter, eine Kamera haltend, ihre kleine Tochter. „Ich bin die Fee vom Walchensee“, antwortet die fünfjährige Janna Ji Wonders mit Blumen im Haar und festem Blick ins Objektiv. Es ist ein Geschenk, dass in der Familie immer schon gefilmt und fotografiert wurde, beginnend mit Wonders’ Großvater, dem Seewirt mit der künstlerischen Ader, der dann nach München zog und ein Künstlerleben führte, weil es ihm an Deutschlands tiefstem und größten Alpensee zu eng wurde. Aus dem überquellenden Archiv hat Wonders die kleine Szene mit ihrer Mutter an den Anfang ihres Films gestellt. Dann tauschen Mutter und Tochter die Rollen. Wir befinden uns nun in der Gegenwart, der Zeit der Dreharbeit. Jetzt befragt die heutige Filmemacherin die Mutter über deren bewegtes Leben sowie über das der Großmutter und Urgroßmutter.
Man muss es gleich vorweg sagen: Es geht hier um viel mehr als um ein Familienalbum, das nur die Familie der Seetöchter, die Freunde und Bekannten interessieren würde. Es geht um wichtige Epochen des 20. Jahrhunderts, um den Zweiten Weltkrieg und wie er die Väter physisch und psychisch versehrte, um das vergleichsweise freie Leben in Abwesenheit der Männer. Es geht um die Protestgeneration der Hippies und ihre Suche nach Selbstverwirklichung, die bis heute nachwirkt, über Kommune-Erfahrungen, experimentelle Lebensformen, indische Philosophie und die spirituelle Selbsterfahrungsgruppe von fünf Frauen um den Alt-68er Rainer Langhans – eine davon Wonders Mutter Anna Werner.
Aber es geht auch um die Frage, wie das alles zusammengehört, welche Muster sich von Generation zu Generation trotz aller Abgrenzungsversuche fortpflanzen. Und darum, was das alles mit dem Walchensee zu tun hat, diesem sinnlich eingefangenen Naturschauspiel, das zugleich als Projektionsfläche für romantische, heimatliche Sehnsüchte, aber auch Ängste dient.
Der See als Kraftzentrum
Eines der schönsten Bilder erscheint kurz vor Ende des Films. Mutter, Großmutter und Tochter (also die Regisseurin) sitzen auf einer Bank am See, direkt beim Wasser, mit dem Rücken zur Kamera. Ganz klein und eingeschrumpelt wirkt die Oma, eingerahmt von Tochter und Enkelin. Es ist ein versöhnliches Bild, majestätisch prangen die Berge im Hintergrund, der See ruht still, es wird kurz nach Sonnenuntergang sein. Mögen Tochter und Mutter auch immer wieder ausbrechen aus der Enge, wieder zurückkehren und neu ausbrechen – die Oma war stets da, verbrachte ihr ganzes Leben am See, stand noch mit 88 am Herd. Jetzt ist sie biblische 105. Sie wird sterben während der Dreharbeiten. Und es wird Wonders’ Tochter Rumi geboren werden – insgesamt also fünf Frauengenerationen, wenn man Omas Mutter Apa dazurechnet, die das familieneigene Ausflugscafé am Walchensee 1920 eröffnete.
Eine große Rolle spielen auch die, die längst nicht mehr da sind: früh verstorbene Frauen. Omas Schwester wurde von der Spanischen Grippe dahingerafft, die zwischen 1918 und 1920 weltweit mehr als 25 Millionen Opfer forderte. Oma Norma, die Überlebende, hatte immer das Gefühl, sie müsse deshalb so brav und fleißig sein, weil die Familie kein weiteres Leid ertrage.
Hippies im Dirndl
Auch Mutter Anna Werner hatte eine früh verstorbene Schwester, die lebenslustig war, im Gegensatz zur ernsten und zurückhaltenden Anna. Frauke hieß sie, von ihr erfahren wir eine ganze Menge, weil sich mit ihr die wohl verrückteste Episode verbindet. Frauke war ein Naturtalent im Jodeln. Gemeinsam mit Anna am Hackbrett traten die Schwestern im Dirndl auf, es gibt Radioaufnahmen davon. Zugleich schrieb man das Jahr 1967. Die Seetöchter waren vom Zeitgeist voll infiziert, auch wenn ihre Musik nicht gerade die angesagteste war. Sie trampten durch die USA, landeten in Mexiko, experimentierten mit Drogen, gingen zu den 68ern nach San Francisco. Hippies mit Hackbrett, sozusagen.
OT: „Walchensee Forever“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Janna Ji Wonders
Drehbuch: Janna Ji Wonders
Musik: Markus Acher, Cico Beck
Kamera: Janna Ji Wonders, Sven Zellner
Ihr seid nach dem Anschauen von Walchensee Forever selbst verzaubert und wollt noch mehr? Dann haben wir etwas für euch: Wir haben uns im Interview mit Regisseurin Janna Ji Wonders über die Arbeit an dem Dokumentarfilm unterhalten.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Deutscher Filmpreis | 2021 | Bester Dokumentarfilm | Nominierung | |
Bester Schnitt | Nominierung |
Berlinale 2020
DOK.fest München 2020
Musikfilmtage Oberaudorf 2020
Filmfest Osnabrück 2020
exground 2020
Bimovie Frauenfilmfest 2020
Filmfest Braunschweig 2020
Fünf Seen Filmfestival 2021
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