Unfassbar, aber wahr: Im Jahr 1950 schiebt ein Staatsanwalt des gerade etablierten Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland dem Angeklagten eine Gestapo-Akte über den Tisch – als Beweismittel für sein angebliches Vergehen. Geschehen ist dies in den Frankfurter Homosexuellen-Prozessen 1950/51, einer beispiellosen Hetzjagd gegen Schwule, die in der Öffentlichkeit bislang kaum bekannt ist. Das informative Dokudrama von Van-Tien Hoang möchte dies ändern und macht einmal mehr klar, was jüngeren Menschen wenig bewusst ist: Es gab eine fatale Kontinuität zwischen dem Mörderregime der Nazis und der jungen Bundesrepublik.
„Hauptstadt“ der Homosexuellen
Der besagte Staatsanwalt hieß Dr. Fritz Thiede und war schon bei den Nazis massiv gegen Schwule vorgegangen. Den Angeklagten Wolfgang Lauinger hatte schon das NS-Regime wegen seiner sexuellen Orientierung eingesperrt. Ihren Höhepunkt erreichte die Frankfurter Verfolgungswelle mit dem erst 17-jährigen Kronzeugen Otto Blankenstein, einem Strichjungen. In seinem Notizbuch findet die Polizei die Namen zahlreicher Kunden, darunter auch der von Lauinger. Gegen 200 homosexuelle und bisexuelle Männer wird ermittelt, rund 100 werden verhaftet.
Grundlage der damaligen Verfolgungen war der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der erst 1994 ersatzlos gestrichen wurde. Das gleichgeschlechtliche Sexverbot für Männer gab es zwar schon vor 1933. Es wurde aber vom Hitlerregime drastisch ausgeweitet und mündete letztlich in die Ermordung Tausender Homosexueller in den Konzentrationslagern. Viele Schwule, die davon gekommen waren, hofften 1945 mit der Befreiung durch die Alliierten auf einen Schlussstrich solcher Menschenrechtsverletzungen. Besonders in Frankfurt am Main, das bald als Hauptstadt der Homosexuellen galt, eroberte sich die Szene ihre Kneipen und Treffpunkte zurück.
Aber die Gegenreaktion der wieder zu Ehren gekommenen Altnazis ließ nicht lange auf sich warten. Die Anklagen von Thiede und die Urteile von Amtsrichter Dr. Kurt Ronimi, ebenfalls ein NS-Jurist, zerstörten die Existenzen vieler Betroffener. Wer es sich leisten konnte, ging ins Ausland, andere bekamen beruflich keinen Fuß mehr auf den Boden, da die Vorstrafen ins polizeiliche Führungszeugnis eigetragen wurden, was bei Job- und Wohnungssuche vorzuzeigen war.
Mindestens ein Verfolgter nahm sich sogar das Leben. Er sprang aus Verzweiflung vom Frankfurter Goetheturm, mit 19 Jahren. Durch ihn wurde Regisseur Van-Tien Hoang 2015 erstmals mit dem Thema konfrontiert, als er auf Facebook Bilder vom Turm sah und einen Kommentar dazu las, der an den Suizid erinnerte. Bei der Recherche stieß er auf Wolfgang Lauinger, den er im hohen Alter von 97 Jahren noch interviewen konnte, bevor er 2017 verstarb. Die Gespräche mit dem Zeitzeugen bilden ein berührendes Kraftzentrum des Films. Ohne Groll und in einer launigen, typisch hessischen Art berichtet er im Plauderton über die Hoffnungen und Enttäuschungen von damals und über die unfassliche Ernüchterung darüber, dass ihm 1950 dasselbe widerfuhr wie 1942. Beide Male saß er monatelang in Einzelhaft, bei den Nazis vier Monate im Untersuchungsgefängnis plus drei Monate wegen illegalen Glücksspiels, in der BRD sechs Monate, obwohl er danach freigesprochen wurde.
Plastische Spielszenen
Flankiert wird das Gespräch mit Lauinger durch Erläuterungen mehrerer Historiker und vor allem durch die nachgestellten Spielszenen, die den ganzen Skandal und die Einzelschicksale plastisch veranschaulichen. Regisseur Van-Tien Hoang entwirft das spannende und berührende Panorama einer Zeit, die einerseits weit weg zu sein scheint, andererseits aber hochaktuell ist. Denn der Zusammenhang zwischen rechter Ideologie und Schwulenhass ist derzeit kaum zu übersehen, nicht nur in Polen oder Ungarn, sondern auch bei der AfD, die mit ihrer Kampagne für die „klassische Familie“ Front gegen die Gleichstellung Homosexueller macht.
Eine Schwäche des Films sind allerdings die laienhaft agierenden Darsteller in den Spielszenen, deren aufgesagt wirkende Sätze und forcierte Gestik zuweilen irritieren. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Regisseur mit einem knappen Budget auskommen musste und sich offenkundig keine teuren Schauspieler leisten konnte. Er finanzierte seinen Film zunächst über Crowdfunding und stand sogar vor dem Scheitern, ehe die hessische Filmförderung das Projekt auf den letzten Drücker rettete. Für Fernsehsender und Redaktionen als mögliche Geldgeber ist das kein Ruhmesblatt. Schließlich handelt es sich um die erste filmische Aufarbeitung der Frankfurter Homosexuellen-Prozesse.
OT: „Das Ende des Schweigens – Die Frankfurter Homosexuellenprozesse“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Van-Tien Hoang
Drehbuch: Van-Tien Hoang, Holger Heckmann
Musik: Frank Moesner
Kamera: Dennis Dudda, Tim Lota
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