Der Südwind The South Wind

Der Südwind

Inhalt / Kritik

Im Zeitalter der Romantik wurde das Reisen oder das Unterwegs-Sein überhaupt auf eine Ebene erhoben, die mehr war als nur ein Verlassen der behüteten Heimat. Die Flucht vor dem Gewohnten war in der Malerei eines Caspar David Friedrich oder in den Gedichten eines Joseph von Eichendorff eine Verbindung des menschlichen Strebens nach Einheit und Harmonie mit der Welt um einen herum, was sich in Kunstwerken wie dem allseits bekannten Der Wanderer über dem Nebelmeer wiederfindet. Auch wenn es sich die bürgerlichen Zeitgenossen der beiden Künstler nicht leisten konnten, Hof und Haus einfach zu verlassen, selbst wenn die Sehnsucht nach der Welt da draußen sehr groß war, behielt das Reisen doch eine Faszination und konnte, wie es in vielen Kunstwerken und Texten dieser Zeit zelebriert wurde, auch in der Fantasie stattfinden. Schaut man sich heutzutage die Reisekataloge diverser Agenturen an, ist kaum etwas zu spüren von jener anderen Ebene, welche das temporäre Verlassen der Heimat beinhalten könnte, ist es doch lediglich auf den Unterhaltungs- und Erholungsaspekt reduziert worden. Nun, da das Reisen pandemiebedingt eingeschränkt ist, lohnt es sich eventuell über diesen Aspekt abermals nachzudenken, wie Reisen stattfinden kann und inwiefern es zur Menschwerdung beitragen kann.

Solche und andere Fragestellungen stehen im Zentrum von Dokumentationen wie Der Südwind des chinesischen Regisseurs Zhang Zhiqiang, welche derzeit auf dem Chinesischen Filmfest München zu sehen ist. Der Filmemacher, der sich in seinen Projekten mit Menschen der Gegenwart, ihrer Psyche und ihren Überlebensstrategien befasst, begleitet ein Ehepaar aus dem Nordosten Chinas, die sich im hohen Alter entschlossen hatten, eine Reise durch ihre Heimat anzutreten. Im Wohnmobil ging die Reise los, bis sie schließlich in der Nähe der Stadt Fangpo ein jähes Ende fand, als jeglicher Reiseverkehr aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 eingeschränkt wurde. Wie viele anderer Urlauber und Reisende sind auch die Gestrandete, die jeden Tag aufs Neue versuchen zu überleben, wobei die Kamera sie bei ihrem Tagesablauf beobachtet, ihren Interaktionen mit den Einheimischen, insbesondere den Fischern und Händlern, sowie ihren Überlegungen zu ihrer derzeitigen Situation, aber genauso wie sie der Zukunft entgegensehen.

Die Launen des Lebens

Bereits in den letzten Monaten haben Dokumentationen wie 76 Days, Coronation oder The Ark, welcher ebenfalls auf dem Chinesischen Filmfest München zu sehen ist, sich mit der unmittelbaren Realität der Pandemie befasst. Die Bilder des Krankenhauses in Wuhan oder der menschenleeren Metropole zeugen von einer geisterhaften Gegenwart, einer düsteren Zukunft, doch auch von einer Hoffnung, welche vor allem von jenen Menschen, den Normalbürgern wie auch den Helfern, ausgeht, die sich dem Virus entgegenstellen. Zhang Zhiqiang geht in Der Südwind einen anderen Weg, wobei die Pandemie zwar im Hintergrund, beispielsweise beim Besuch des Wochenmarktes, eine Rolle spielt, aber in erster Linie die beiden Protagonisten im Vordergrund stehen. In teils sehr langen Sequenzen wird der Gang zum Meer beschrieben, das Suchen nach Meeresfrüchten, das Zubereiten der Speisen oder das Verhandeln mit Fischern. Vieles davon mag banal erscheinen, was vor allem dem Ehepaar geschuldet ist, welches sich mit einer eigentlich unzumutbaren Situation versucht hat zu arrangieren.

Innerhalb der 65-minütigen Dokumentation wechselt der Film zwischen den Bildern dieses Alltags und der Fokussierung auf die beiden Eheleute, die mehr als einmal über ihre Ängste, ihre Freuden und ihre Hoffnungen für die Zukunft sprechen. Auch hier begegnet dem Zuschauer manche banale Wahrheit, doch zugleich sehr viel Vertrautes, wenn es um das Überleben der Menschen generell geht und wie man sich angesichts einer so universellen Realität wie einer Pandemie verhalten kann. Selbst wenn die Postkartenromantik mancher Einstellungen etwas anderes vermuten lässt, geht es Zhang nicht um eine spirituelle Ebene, sondern eher um das Sortieren von Gedanken, einer Reise, wenn man so will, die zwar geografisch gesehen Halt macht, doch in jenen Gesprächen und Überlegungen des Ehepaares weitergeht.

Credits

OT: „The South Wind“
Land: China
Jahr: 2020
Regie: Zhiqiang Zhang
Kamera: Zhiqiang Zhang



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"Der Südwind" ist eine Dokumentation über das Reisen in Gedanken, über ein Ehepaar in einer unmöglichen Situation und wie es sich mit dieser arrangiert hat. Zhang Zhiqiang beobachtet Menschen dabei, wie sich eine Normalität schaffen, wie sie überleben und wie sie die Zukunft sehen.
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