Jürgen Prochnow zählt zu den wenigen deutschen Schauspielern, die dauerhaft in Hollywood Fuß fassen konnten. Er hatte seinen großen internationalen Durchbruch 1981 mit Das Boot. Darauf wird auch in seinem jüngsten Film angespielt, dem Debüt Eine Handvoll Wasser von Jakob Zapf. Hier verkörpert der mittlerweile 80-Jährige den Witwer Konrad, der allein in seinem Haus lebt und eines Nachts Geräusche einer Einbrecherin hört. Das aus dem Jemen stammende Mädchen Thurba (Milena Pribak) möchte heimlich in einem Kellerraum übernachten, in dem auch ein großes Aquarium steht. Die Elfjährige ist aus der Wohnung geflohen, als die Abschiebepolizei sie und ihre Familie zurück in das Bürgerkriegsgebiet schicken wollte. Thurba weiß: Solange ein Familienmitglied fehlt, darf auch der Rest nicht ausgeflogen werden. Doch Hausbesitzer Konrad ist vom dem Eindringling keineswegs begeistert. Er schießt sogar auf das Mädchen und kümmert sich zunächst nur missmutig um dessen (leichte) Verletzung. Wir sprachen mit Jürgen Prochnow anlässlich des Kinostarts am 11. November 2021 über die Herausforderungen eines Filmdrehs, seine Freundschaft zum Schauspielkollegen Günter Lamprecht und eigene Fluchterfahrungen.
Im Film spielt ein Aquarium eine große Rolle. Auf seinem Grund liegt ein gesunkenes Miniaturboot. Haben Sie das als Anspielung auf die Rolle gesehen, die fast jeder in Deutschland mit Ihnen verbindet, nämlich die des U-Boot-Kommandanten in Wolfgang Petersens Welterfolg Das Boot?
Ich habe mir das nicht bestellt. Es war ein Einfall des Szenenbildners. Er hat mich damit überraschen wollen. Das hat er auch geschafft (lacht).
Ihre Figur Konrad gehörte zu den Geflüchteten nach Ende des Nazi-Regimes. Auch Sie persönlich teilen dieses Schicksal. Sie mussten als Vierjähriger mit ihren Eltern aus Pommern fliehen. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Das zählt zu den frühesten Erinnerungen meines Lebens. Dadurch, dass die Flucht unter solch extremen Verhältnissen geschah, hat sie sich tief in mein Gehirn eingegraben. Ich bin 1941 in Berlin geboren. Als dort die Bombardierungen 1943 und 1944 immer stärker wurden, beschlossen meine Eltern, dass meine Mutter mit meinem Bruder und mir zu meinen Großeltern mütterlicherseits nach Pommern geht. Auf dem Land und in der Kleinstadt spürte man den Krieg damals noch nicht so heftig wie in Berlin. Anfang 1945 rückte die sowjetische Armee immer weiter nach Westen vor und kam bald an die Pommersche Grenze. Meine Mutter entschloss sich, mit meinem Bruder und mir wieder Richtung Westen zu fahren. Wir sind in Parchim gelandet, wo mein Vater beim Reichpostzentralamt als Fernmeldeingenieur dabei war, das Fernsehen für die Nazis aufzubauen. Die Rote Armee hat uns bald eingeholt, mein Vater wurde festgenommen und in ein Lager in Russland gebracht. Die Erinnerungen an den völlig überfüllten Zug und den Beschuss durch Flieger und die Zeit in Parchim, wo wir bei Angriffen in einen selbstgebauten, völlig unzureichenden Luftschutzbunker geflüchtet sind, sowie die schwierigen Jahre nach Kriegsende – all das hat sich tief in mir festgesetzt.
Hat Ihnen das beim Verständnis der Rolle geholfen?
Natürlich. Ich fand das einen guten Einstieg in die Rolle des Konrad, nämlich zu erkennen, dass ich mal in einer ähnlichen Situation gewesen bin wie das Mädchen Thurba, das zufällig zu dem alten Mann kommt, den ich spiele. Die Parallele hilft mir und hoffentlich den Zuschauern, Empathie aufzubauen und zu verstehen, was die Geflüchteten heute durchmachen, bis sie hierherkommen. Die haben ihr nacktes Leben gerettet, so wie wir auch damals.
Gab der aktuelle Bezug den Ausschlag, die Rolle anzunehmen?
Ja. Das Thema von Flucht und Vertreibung strahlt jeden Tag in unser Leben hinein und ist für lange Zeit auch nicht mehr wegzudenken. Nehmen Sie aktuell Afghanistan, oder die Lage an der Grenze zwischen Belarus und Polen oder auch die Menschen, die täglich auf dem Mittelmeer ihr Leben riskieren. Es war mir ein Anliegen, zu verdeutlichen, dass ich als Kind eine ähnliche Erfahrung gemacht habe.
Haben Sie das Gefühl, Kino kann etwas verändern?
Kino kann berühren und dadurch Menschen beeinflussen. Es gibt natürlich sehr viele, die Geflüchteten schon geholfen und das nötige Mitgefühl aufgebracht haben. Wenn ein Film aber noch ein paar andere erreicht, die sich überlegen, dass ihre Eltern oder vielleicht sie selbst auch schon mal in einer schwierigen Situation waren, fände ich das ganz toll.
Sie spielen einen alten Mann, der zumindest zu Beginn als mürrischer Menschenfeind erscheint. Wie haben Sie sich dieser Figur angenähert, die ohne mit der Wimper zu zucken auf Einbrecher schießt?
Als Menschenfeind würde ich ihn nicht bezeichnen. Für mich ist die Figur des Konrad innerlich weitgehend abgestorben. Er ist nach dem Tod seiner Frau vereinsamt. Mit seiner Tochter hat er sich auseinander gelebt, weil sie eine andere Frau geheiratet hat, wofür er kein Verständnis aufbringt. Daher stößt er seine Tochter, die sich um ihn kümmern will, permanent vor den Kopf. Aber in Konrad ist etwas verschüttet worden. Es war der Reiz an der Figur, das wieder aufzubrechen. Trotz seines hohen Alters findet er wieder ins Leben zurück und sieht, dass er noch etwas Gutes tun kann. Das empfinde ich als schöne Botschaft.
Milena Pribak, die die Figur der Thurba spielt, ist erst zwei Wochen vor Drehbeginn besetzt worden. Wie haben Sie es hingekriegt, dass die Chemie zwischen Ihnen beiden stimmt?
Es war sehr schwierig. Wir hatten mehrere Castings, aber manche Mädchen passten nicht für die Rolle, andere wollten nicht. Die Herausforderung für Milena war dann sehr groß. Sie hat eine Riesenrolle, stand aber vorher noch nie vor einer Kamera und musste teilweise in einer fremden Sprache drehen. Ich vergleiche das oft mit meiner ersten Filmrolle. Ich war ein gestandener Schauspieler mit drei Jahren Schauspielschule und fünf Jahren Repertoiretheater im Rücken, aber trotzdem war ich mit dem Prozess des Filmemachens erst einmal völlig überfordert. Man kann ja für seine Rolle keine Kontinuität aufbauen, sondern muss mal hier einen Fetzen und mal dort einen Fetzen der Geschichte spielen. Für Milena war es eine ungeheure Leistung.
Eigentlich war Günter Lamprecht für die Rolle des Konrad vorgesehen. Er soll dann aber, nachdem sich die Realisierung des Films in die Länge zog, vorgeschlagen haben, dass Sie für ihn einspringen. Wie ging das vor sich?
Als ich das Angebot bekam, hatte Günter schon abgelehnt. Ich glaube, er hat sich nicht mehr in der Lage gefühlt, die Anstrengungen eines Drehs für eine so große Rolle auf sich zu nehmen. Ich kenne ihn gut, mag ihn sehr und war eine Zeitlang mit ihm am selben Theater engagiert vor vielen Jahren. Für mich ist er ein großartiger Schauspieler. Günter ist zehn Jahre älter als ich. Ich kann mir gut vorstellen, dass man irgendwann nicht mehr die Kraft für eine solche Rolle aufbringt. Aber ich habe bei ihm nicht nachgefragt und kenne daher die Gründe für seine Absage nicht aus erster Hand.
Bei Ihnen hat man nicht den Eindruck, dass Sie ans Aufhören denken oder sich größere Rollen nicht mehr zutrauen.
Wie gesagt: Ich bin zehn Jahre jünger, das macht eine Menge aus. Ich trete zwar kürzer, aber ich kriege immer noch schöne Angebote. Wenn mich etwas reizt, mache ich es.
Gibt es Kriterien, wann Sie zu- oder absagen?
Es muss ein gutes Drehbuch und eine gute Rolle sein. Außerdem bin ich mir der Konsequenzen bewusst, wenn ich mich auf einen Low-Budget-Film wie diesen einlasse. Hier ging es nicht ums Geld, sondern um die Rolle und darum, diese Geschichte zu erzählen. Auch wenn die Bedingungen ganz andere sind als die, unter denen ich in den letzten 20 Jahren gedreht habe, von wenigen kleineren Filmen abgesehen.
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