Wenn andere von ihrer Arbeit nach Hause gehen, da geht es bei Mikaël (Vincent Macaigne) erst richtig los. Beinahe täglich ist der Arzt abends unterwegs, um den Menschen zu helfen. Vor allem für die Drogenjunkies, oft ohne ein eigenes Zuhause, hat er immer ein offenes Ohr und das eine oder andere Rezept, das ihnen durch die schwierige Zeit helfen soll. Dabei läuft auch im Leben von Mikaël so einiges nicht wirklich. Vor allem seine Ehe mit Sacha (Sarah Le Picard) ist von zahlreichen Problemen und Streitigkeiten geprägt, da er zu selten daheim ist und seine Familie vernachlässigt. Und dann wäre da auch noch sein Cousin Dimitri (Pio Marmaï), der als Apotheker arbeitet und ihn in das gefährliche Geschäft mit Heroinsubstituten hineingezogen hat …
Helfen, weil es niemand tut
So ein erster Eindruck kann schon trügen. Das gilt bei Der Nachtarzt sogar doppelt. Da wäre zum einen das Genre. Am Anfang meint man, es handele sich bei dem französischen Film um eines dieser Sozialdramen, welche die Missstände in der Gesellschaft aufdecken. Hier sind es vor allem jene im Gesundheitsbereich, welche schon nach wenigen Minuten offensichtlich werden. Was bringt einen verheirateten Mann mit zwei kleinen Kindern dazu, praktisch jeden Abend mit dem Auto durch die Gegend zu fahren und irgendwelche Leute zu versorgen? Ganz einfach: Es gibt außer ihm zu wenige, die das tun. Immer wieder wird deutlich gesagt, dass die entsprechenden Stellen chronisch unterbesetzt ist, woran die miese Bezahlung sicher nicht unschuldig ist.
Das erinnert an andere Dramen, welche die Gesundheitssysteme ihrer jeweiligen Länder an den Pranger stellen. Bei Arrhythmia war es beispielsweise die Situation in Russland, die wir durch die Augen eines Sanitäters kennenlernen durften. Und es war keine schöne Situation, wenn Zeitdruck und Sparzwang zusammenkommen, in dessen Folge immer wieder Leute auf der Strecke bleiben. Wenn Mikaël in Problemvierteln unterwegs ist und sich beispielsweise um alte Menschen kümmert, die nicht einmal Französisch sprechen, dann ähnelt Der Nachtarzt auch Das unbekannte Mädchen. Dort war es ein kleines belgisches Städtchen, dessen Einwohner und Einwohnerinnen von einer engagierten Ärztin betreut und besucht werden, weil sie es nicht mehr in die Praxis schaffen.
Nicht so heilig wie gedacht
Bei Mikaël stellt sich aber bald heraus, dass der von seinen Betreuten schon mal Heiliger genannt wird, moralisch doch nicht ganz so makellos ist, wie man denken könnte. Nach und nach zeigt Der Nachtarzt, dass an der Geschichte des Protagonisten mehr dran ist. Dass da sowohl privat wie auch beruflich einiges nicht so wirklich vorzeigbar ist. Vincent Macaigne (Die Familienfeier, Weiß wie Schnee – Wer ist die Schönste im ganzen Land?) verkörpert dieses Doppelspiel packend, gibt seiner Figur die notwendige Ambivalenz mit, dass man als Zuschauer und Zuschauerin neugierig ist, was da sonst noch alles kommen wird. Der Arzt befindet sich an einer wichtigen Weggabelung seines Lebens, so viel wird bald deutlich. Und er weiß selbst nicht so recht, welche Richtung er nun einschlagen soll.
Damit einher geht eine zunehmende Intensität der Ereignisse. Die freundlichen Momente zu Beginn, wenn ihm mit strahlenden Augen für alles gedankt wird, was er getan hat, weichen solchen, in denen das alles schon viel weniger nett ist. Und auch der gutmütig-unbeirrbare Nachtarzt zeigt, dass er noch ganz anders kann. Tatsächlich eskaliert Der Nachtarzt mit der Zeit so sehr, dass das Sozialdrama mehr einem Thriller gleicht, bei dem die Befürchtung groß ist: Das geht nicht gut aus. Ob das Ganze so glaubwürdig ist, darüber lässt sich streiten. Sowohl bei der Geschichte wie auch den Figuren muss man einiges für gegeben hinnehmen, weshalb die Ansätze von Gesellschaftskritik irgendwann ganz klein werden. Aber es ist doch spannend, was Regisseur und Co-Autor Élie Wajeman hier zu erzählen hat, wenn er uns auf eine nächtliche Tour mitnimmt, in der es von Minute zu Minute finsterer wird.
OT: „Médecin de nuit“
IT: „The Night Doctor“
Land: Frankreich
Jahr: 2020
Regie: Élie Wajeman
Drehbuch: Élie Wajeman, Agnès Feuvre
Musik: Evgueni Galperine, Sacha Galperine
Kamera: David Chizallet
Besetzung: Vincent Macaigne, Sara Giraudeau, Pio Marmaï, Sarah Le Picard
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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César | 2022 | Bester Hauptdarsteller | Vincent Macaigne | Nominierung |
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