Die Sommerhitze in der kleinen Wohnung ist beinahe unerträglich und die Schülerin Li Senlin (Jiang Li) hat eigentlich gar keine richtige Lust, an ihrem Essay für die Schule zu arbeiten. Als ihr Vater für eine Geschäftsreise die Familie für einige Zeit verlassen muss, beschäftigt die 14-Jährige dies schon mehr, weil sie ahnt, dass ihr und ihren Eltern eine Veränderung ins Haus steht, deren Ausmaß sie noch nicht einmal erahnt. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter (Chen Yan) vereiteln jedoch jegliche Anstrengung, weiter über dieses Thema nachzudenken, besonders da diese nur sieht, wie ihre Tochter den ganzen Tag über in der Wohnung verbringt, meist auf dem Boden ihres Zimmers liegt und vor sich in träumt. Als dann ihre Tante (Huang Jing) der Familie überraschend einen Besuch erstattet, ist dies nicht nur eine willkommene Ablenkung von dem täglichen Einerlei, sondern zudem eine sehr willkommene Inspiration für den Schulessay. Ihre Tante erzählt ihrer Nichte von ihrer Vergangenheit, dem Tod ihres Ehemannes sowie dem Kaiserkanal und welche Rolle dieser für ihre Leben spielt.
Mit dem Eintreffen ihrer Tante beginnen jedoch auch einige seltsame Phänomene, angefangen bei dem Verschwinden von Gegenständen. Während die drei Frauen durch Hangzhou ziehen und jene Stätten besuchen, von denen die Tante gesprochen hat, wird die Geschichte der Tante, von ihren Prüfungen und ihrem Aufenthalt auf einer mysteriösen Insel, auf einmal lebendig in der Vorstellung Li Senlins.
Film als Erinnerung
Dass sich die Heimat eines Menschen im Sinne des Fortschritts und im Rahmen städtebaulicher Maßnahmen bis zur Unkenntlichkeit verändern kann, ist dem chinesischen Regisseur Zhu Xin sehr wohl bewusst. Hangzhou ist nicht nur der Handlungsort seines ersten Spielfilms Vanishing Days, der im Programm der Berlinale 2019 vertreten war sowie auf dem Hong Kong International Film Festival 2018 für den renommierten Firebird Award nominiert war, sondern auch seine Heimat, die sich, wie viele andere Städte und Orte in China verändert haben. Von daher erfüllt Vanishing Days, der nun auch auf dem Chinesischen Filmfest München zu sehen ist, für ihn unter anderem die Aufgabe einen Moment festzuhalten, vielleicht auch seine Erinnerung an die Stadt, bevor diese auf ewig nicht mehr verfügbar ist.
Im Allgemeinen scheint Zhu Xin in Vanishing Days dem Grundsatz des großen Andrei Tarkowski folgen zu wollen, der die Filmkunst vor allem als ein Festhalten von Zeit verstand und dies zum Thema seines Werkes machte. Die Charaktere, allen voran Li Senlins Tante, scheinen sich der Veränderung verschließen zu wollen oder in der Erinnerung einen Ausweg zu suchen, wo die Neuerungen ihres Umfeldes keinen Zugang zu haben. In ihren Geschichten, der Fantasie der Schülerin sowie den Bildern von Kameramann Zhang Wei spielen diese Ebenen eine gewichtige Rolle und machen die Stadt wie auch das Land, welches sie umgibt, zu einem Ort, an dem sich Erinnerung, Traum und Wirklichkeit treffen. Die Vergangenheit ist nicht, wie der Titel des Filmes vermuten lässt, verschwunden, sondern bleibt, wenn auch in kleiner Menge bestehen, gleich einem Echo aus fernen Tagen.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Am nächsten kommt ein Film wie Vanishing Days noch den Arbeiten von Regisseuren wie Apichatpong Weerasethakul (Cemetery of Splendour) oder Edward Yang (The Terrorizers). Zeit, Erinnerung und Ort spielen eine gewichtige Rolle, wobei sich der moderne urbane Raum oder die Lebenswirklichkeit von Menschen vermischt mit den Geschichten bzw. der Vergangenheit einer Kultur. In Vanishing Days hebt Regisseur Zhu Xin diese Trennung erst nach und nach auf, was vielen Orten und Begegnungen eine gewisse Magie verleiht, wie beispielsweise der Vision am Wasserfall. Das Halluzinatorische macht Vanishing Days vor allem zu einem ästhetisch sehr ansprechenden Film, den in jeder Einstellung eine gewisse Melancholie und Nostalgie umgibt.
OT: „Man you“
Land: China
Jahr: 2018
Regie: Zhu Xin
Drehbuch: Dai Ying, Zhu Xin
Musik: Tao Zhen
Kamera: Zhang Wei
Besetzung: Jiang Li, Huang Jing, Chan Yan, Li Xiaoxing, Lu Jiahe
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