Samia (Nisrin Erradi) ist unverheiratet und schwanger, in Marokko ein Problem. Aus diesem Grund hat sie ihre Familie in der Provinz verlassen und ist nach Casablanca gegangen. Hier will sie ihr Kind bekommen und zur Adoption freigeben, um dann nach Hause zurückkehren und keine Schande über ihre Familie zu bringen. Das Problem: Sie ist obdach- und arbeitslos in der Metropole, weswegen sie an viele Türen klopft und sich vergebens als Arbeitskraft anbietet. Irgendwann gerät Samia an die Tür von Bäckerin Adla (Lubna Azabal) und ihrer Tochter Warda (Douae Belkhaouda). Auch Adla weist Samia zunächst ab, doch holt sie nachts mitleidig zu sich ins Haus. Die auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Frauen lernen nach und nach wichtige Dinge voneinander und dadurch auch über sich selbst und ihren Platz in der Gesellschaft.
Immer am Geschehen dran
Adam ist das Langfilmdebüt der Regisseurin und Autorin Maryam Touzani und sehr minimalistisch inszeniert. Ruhig, praktisch ohne Musik und in unaufgeregten, gedeckten Farben erzählt Touzani behutsam und stilsicher ihre Geschichte. Zwar gibt es ab und zu Szenen, in denen farbliche und musikalische Akzente gesetzt werden, allerdings dient die Kamera vor allem als Werkzeug, um die Hauptfiguren zu zeigen. Mit Handkamera gefilmt, ist das Publikum sehr nah und sehr lange an Samia und Adla dran. Dadurch entsteht eine starke Bindung und Intimität zu den Figuren, aber auch tolle charakterliche Spannungen, wenn die Kamera selbst in Momenten noch draufhält, in denen man lieber wegschauen würde, es aber einfach nicht kann. Die Art der Kameraarbeit und des Schnittes erinnern an Filme wie Call Me by Your Name, der sich gleicher Mittel bedient. Gerade das Ende liefert dadurch eine atemberaubende Szene. Auch die Geschwindigkeit der Kamerabewegungen wird als klarer Bestandteil des Narrativs genutzt. Adam weiß sein geringes Budget wirklich gut zu verstecken, auch wenn er kein inszenatorisches Meisterwerk ist.
Raffiniert in der Inszenierung ist er aber allemal. So legt Kamerafrau Virginie Surdej viel Wert auf kleine Details in den Bereichen Körperhaltung, Bewegungen oder Mimik. Was dem Film sehr viel Subtext liefert und die Dialogarmut sinnvoll ergänzt. Gerade in Adlas Gesicht, die grandios von der aus Denis Villeneuves Die Frau, die singt bekannten Lubana Azabal gespielt wird, ist so viel mehr zu erkennen, als der Film direkt erzählt. Dazu kommt die wirklich gelungene Darbietung Nisrin Erradis als Samia, die es sehr gut schafft, die Ambivalenz ihrer Figur zwischen Frohmut und Verzweiflung rüberzubringen.
Konstruktiver Feminismus
Inhaltlich ist Adam genauso minimalistisch wie vielschichtig. Es kommt zwar immer wieder zu lockeren Momenten mit der jungen Warda, allerdings ist Adam sehr fokussiert auf die Reise seiner beiden Protagonistinnen. Diese sehen sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, die aber vor allem mit den Wertevorstellungen und Erwartungshaltungen an Frauen in einer patriarchischen Gesellschaft zu tun haben. Wie habe ich mich als Mutter zu verhalten? Darf ich als selbstbestimmte Frau auch mal schwach sein? Wie schaffe ich es, mich selbst schön zu finden? All das sind Fragen, die Adam stellt, nicht aber fest beantwortet. Diese Themen werden transportiert, indem Adla und Samia diese Dinge an sich, aber auch in sich selbst erkennen und eben jene genannten Fragen zu stellen beginnen. Auch wenn sie sehr unterschiedlich wirken, sind sie durch diese Fragen vereint und schaffen es immer wieder, einander beizustehen und auch dazu zu bringen ihre Hemmungen zu konfrontieren und zu hinterfragen.
Grundsätzlich herrscht im Film dabei eine sehr ruhige und konzentrierte Atmosphäre, die aber die zentralen Momente charakterlicher Scheidewege umso mehr herausstechen lässt. Das sind sowohl Szenen, die eine große Befreiung und Freude ausstrahlen als auch Szenen, die zum kräftigen Schlucken veranlassen. Dennoch verliert der Film im zweiten Drittel stellenweise etwas Luft und fühlt sich länger an, als er ist. Auch ist Adam kein universalphilosophisches Wunderwerk, aber er schafft es eine sehr feine, realitätsnahe Perspektive auf gesellschaftliche wie persönliche Probleme zu legen. Außerdem bietet der Film in vielen Szenen genug Ambiguität und Möglichkeiten zur Interpretation gewisser Symbole und eine unverbrauchte Sichtweise, um der Gefahr des Melodram-Kitsches zu entlaufen.
OT: „Adam“/ „آدم“
Land: Marokko, Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Maryam Touzani
Drehbuch: Maryam Touzani
Kamera: Virginie Surdej
Besetzung: Lubna Azabal, Nisrin Erradi, Douae Belkhaouda, Aziz Hattab
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Prix Lumières | 2021 | Beste Nachwuchsdarstellerin | Nisrin Erradi | Nominierung |
Beste internationale Coproduktion | Nominierung |
Cannes 2019
Toronto International Film Festival 2019
Zurich Film Festival 2019
International Film Festival Rotterdam 2020
Französische Filmwoche Berlin 2021
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