Wirklich gern ist Ana (Cassandra Forêt) nicht in dem großen Anwesen der Familie. Der Großvater ist kürzlich gestorben, was zu der bedrückenden Atmosphäre beiträgt. Und auch sonst macht das Mädchen einige unheimliche Entdeckungen, während sie durch die dunkle Villa schleicht. Das Leben als Jugendliche ist für Ana (jetzt: Charlotte Eugène-Guibbaud) da schon deutlich angenehmer. An Aufregungen mangelt es aber auch in diesem Alter nicht, umso mehr, da sie so langsam die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich zieht – zum Leidwesen ihrer Mutter. Selbst erwachsen geworden, zieht es Ana (jetzt: Marie Bos) wieder in die Villa zurück, in der sie als Kind die eigenartigen Erfahrungen gemacht hat, und muss sich dort ihren Ängsten stellen …
Erinnerung an eine vergangene Zeit
Auch wenn die Hochphase des Giallo mittlerweile mehr als 40 Jahre zurückliegt, gibt es doch immer noch genügend Leute, die bei dem Thema leuchtende Augen bekommen. Vor allem unter Filmschaffenden finden sich immer wieder welche, die an die in Italien geborene Mischung aus Thriller und Horror zurückerinnern. Berberian Sound Studio (2012) und Malignant (2021) verbeugten sich vor diesen Filmen, die gleichermaßen durch eine bedrohliche Stimmung wie auch eine audiovisuelle Experimentierfreudigkeit auffielen. Vor allem aber das Duo Hélène Cattet und Bruno Forzani wird mit diesen cineastischen Zeitreisen zurück in eine stylischere Vergangenheit verbunden. Zwar ist der Output der beiden nicht sonderlich hoch. Gerade einmal drei Filme haben sie bislang gedreht. Eindruck hinterließen diese dafür umso mehr.
Schon das 2009 erschienene Amer – Die dunkle Seite der Träume, der erste der drei Filme, wurde weltweit vom Publikum bewundert. Geliebt jedoch nur zum Teil. Tatsächlich waren die Reaktion gemischt. Während die Kritiken im Großen und Ganzen gut waren, standen viele dem Werk ratlos gegenüber. Teilweise auch gleichgültig. Ein Grund dafür ist, dass die Handlung eigentlich überschaubar ist. Wenn die kindliche Ana durch das Haus streicht und in den verwinkelten Schatten ihrer Angst verlorengeht, dann ist das nicht mit einer konkreten Gefahr verbunden. Wo im Giallo oft Serienmörder ihr Unwesen trieben, dem jeder zum Opfer fallen konnte, da fehlt hier ein vergleichbarer Aggressor. Und auch wenn es später etwas konkreter wird, fehlt doch ein Nervenkitzel im klassischen Sinn – weshalb nicht wenige sich beim Anschauen tödlich langweilen.
Die Bilder des Ungesagten
Verstärkt wird das durch die Entscheidung, nahezu völlig auf Dialoge zu verzichten. Dann und wann wird schon gesprochen. Das dient jedoch weniger dem Vorantreiben einer Handlung, ist vielmehr eines von mehreren Elementen dieses Mosaiks des Unterbewussten. Wie der deutsche Untertitel Die dunkle Seite der Träume – alternativ auch Die dunkle Seite deiner Träume oder Ein Albtraum aus Angst und Begierde – bereits verrät, geht es um das, was in Ana vor sich geht. Amer verbildlicht das Unausgesprochene, kombiniert dabei das Grauen mit der Lust. Das Ergebnis ist ein surrealer Genrebeitrag, der relativ wenig Antworten vorgibt. Selbst die Fragen sind zum Teil recht diffus und lassen dem Publikum viel Freiraum. Cattet und Forzani haben ein Werk geschaffen, das je nach Perspektive sehr reichhaltig ist oder völlig inhaltsfrei.
Unstrittig ist, dass die audiovisuelle Umsetzung ein Genuss ist. Wie in besten Giallo-Zeiten wird hier ausgiebig mit Farben und Perspektiven gespielt. Dabei ist Amer – Die dunkle Seite der Träume nicht zwangsläufig ein dunkles Labyrinth, durch welches das Publikum irrt. Es kann sogar sehr hell werden wie im sonnendurchfluteten zweiten Abschnitt, der von der aufwachsenden Ana und den sich langsam manifestierenden Begierden erzählt. Tatsächlich liegen Licht und Schatten in dem Film oft eng beieinander, Unschuld und Verführung, Erlösung und Verdammnis, Begehren und Tod. Das ist auch mehr als zehn Jahre später sehenswert, sofern man sich eben auf eine Welt einlassen kann, die einem bekannt vorkommt und dabei doch fremd erscheint.
OT: „Amer“
Land: Frankreich, Belgien
Jahr: 2009
Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani
Drehbuch: Hélène Cattet, Bruno Forzani
Musik: Richard Ruzicka
Kamera: Alexander Fischerkoesen
Besetzung: Cassandra Forêt, Bianca Maria D’Amato, Charlotte Eugène Guibeaud, Marie Bos
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