Ein Baby kommt auf die Welt. „Gloria“ heißt das Mädchen, das erste Enkelkind der Familie. Mathilda (Anaïs Demoustier), die ältere der beiden Töchter, hat ihm das Leben geschenkt, zusammen mit ihrem Mann Nicolas (Robinson Stévenin). Oma Sylvie (Ariane Ascaride) ist überglücklich, hat sie Mathilda doch unter schwierigen Umständen groß gezogen, zunächst allein, später gemeinsam mit Richard (Jean-Pierre Darroussin), der zwar „nur“ der Stiefvater von Mathilda ist, sich aber immer wie ein richtiger Vater gefühlt hat. Das ist seiner leiblichen Tochter Aurore (Lola Naymark) nicht entgangen, die ihrer Stiefschwester Mathilde seit langem mit Eifersucht begegnet. Entsprechend kühl ist die Begrüßung, als Aurore mit ihrem Mann Bruno (Grégoire Leprince-Ringuet) das Zimmer im Krankenhaus betritt, in dem sich die Familie versammelt, um das Baby zu bestaunen. Nur einer kann nicht dabei sein, denn er sitzt seit Jahrzehnten im Gefängnis: Mathildas leiblicher Vater Daniel (Gérard Meylan), der seine Tochter nie kennengelernt hat. Doch auch lange Haftstrafen enden irgendwann einmal. Und so kehrt Daniel, der in der Bretagne inhaftiert war, zurück nach Marseille, um seine Enkelin zu sehen. Seine Ankunft bringt Dinge in Bewegung. Aber für die Probleme, ein Kind unter den gegenwärtigen Verhältnissen durchzubringen, kann er nichts.
Hommage an eine Stadt
Morgengrauen, die Lichter der Nacht leuchten noch. So präsentiert sich der Hafen von Marseille der Kamera, die mit Daniel in Rennes den Bus bestiegen hat. Zu getragener klassischer Musik taucht die Stadt wie eine Offenbarung aus dem Dunkel auf – wie ein heller Stern nach finsteren Zeiten. Strahlend herausgeputzt liegen die Schiffe am Kai, vor offenem Horizont. Wie beinahe in jedem Film des hier geborenen Regisseurs Robert Guédiguian spielt Marseille eine heimliche Hauptrolle. Flair und Lebensgefühl der Industriestadt am Mittelmeer wehren sich dagegen, bloße Kulisse zu sein. Sie nehmen Einfluss auf Entscheidungen und Motive der Charaktere, im guten wie im schlechten Sinne. Das Gute an Guédiguians Marseille ist seine Lebendigkeit: eine mediterrane Leichtigkeit, die zu Geselligkeit einlädt. Das Schlechte hat mit der Industrie zu tun, mit Konkurrenz, Leistungsdruck und Ausbeutung. Diese Verhältnisse sind natürlich nicht spezifisch an den Heimatort des bekennenden Sozialkritikers gebunden. Aber er zeigt sie so, wie er sie am besten kennt, nämlich aus der Nähe, in den zwischenmenschlichen Verhältnissen bis hinein in die Familie.
So allgemein könnte man einige Filme von Robert Guédiguian beschreiben, den manche für eine Art französischen Ken Loach halten. Zum Beispiel Marius und Jeanette (1997), sein wohl bekanntestes Werk. Oder Der Schnee am Kilimandscharo, der 2011 den „LUX“-Filmpreis des Europäischen Parlaments gewann. Oder Das Haus am Meer (2018), seine bislang letzte Arbeit, die er ebenfalls mit seinen Stammschauspielern, darunter seiner Ehefrau Ariane Ascaride gedreht hat. Neben dem Bekannten findet sich allerdings auch etwas Neues in Gloria Mundi – Rückkehr nach Marseille. Es hat mit dem Blick von außen zu tun, den der Ex-Häftling Daniel auf seine Heimat wirft. Was er sieht, ist ihm fremd, und das ist nicht nur Handys und Flachbildschirmen geschuldet. Vor allem die sozialen Verhältnisse haben sich geändert. Die Ansichten der Gewerkschaftler, sonst Helden bei Guédiguian, scheinen weltfremd, prekäre Jobs zwingen Menschen zu unsozialem Verhalten, der Egoismus zerfrisst sogar die kleinste soziale Zelle, die Familie.
Hetze, bis der Arzt kommt
Die Genauigkeit in der Beschreibung moderner Arbeitsverhältnisse zählt zu den großen Stärken des Films. Mathilda etwa muss sich von ihrer Chefin herumschubsen lassen, ihre Arbeit in einem Kleiderladen ist nur auf Probe. Ihr Mann Nicolas versucht es als Selbstständiger und ist dabei noch schlimmer dran. Er hat sich eine schicke Limousine besorgt, um über den Fahrdienst Uber gutbetuchte Touristen durch die Stadt zu kutschieren. Aber als ihm ein paar Männer – vermutlich konkurrierende Taxifahrer – den Arm brechen, steht er ohne Lohnfortzahlung da. Seine Schwiegermutter Sylvie putzt vorwiegend nachts, sie braucht die paar Euro mehr, um gemeinsam mit ihrem Ehemann über die Runden zu kommen. Was die Verhältnisse mit der Familie kleiner Leute anstellen, ist bis in die Körpersprache hinein zu sehen: Müdigkeit, unterdrückter Ärger, Hetze, vergebliche Anbiederung. Wem die prekären Bedingungen nutzen, zeigen Mathildas Schwester Aurore und ihr Mann. Sie haben es zu Geld gebracht, stehen auf der Seite der Ausbeuter und feuern jeden, der nach einer Sozialversicherung auch nur fragt.
In das realistische Sozialdrama mischen sich wie immer bei Guédiguian auch poetische Töne. Solidarität, Liebe und Gemeinschaft lassen selbst triste Verhältnisse leuchten. Vor allem dem geläuterten Ex-Häftling fällt diese Rolle zu. Er ist gekommen, um etwas gut zu machen. Aber leider scheint der Film ebenso hilflos vor der veränderten Realität zu stehen wie die heimliche Hauptfigur eines episodenhaften Ensemblestücks. Das Drama neigt zu nostalgischer Verklärung, indem es die Kraft der Versöhnung nur noch der älteren Generation zugesteht. Alle Jüngeren scheinen sich komplett der kapitalistischen Warenlogik zu unterwerfen, die bis in die intimsten Beziehungen vordringt. Wo das Geld regiert, so die erschütternde Botschaft, haben Ehe, Kinderkriegen und Familienglück keine Chance mehr. Das ist am Ende dann doch etwas schematisch gedacht in einer ansonsten auf Gut-Böse-Schemata verzichtenden Bestandaufnahme.
OT: „Gloria Mundi“
Land: Frankreich, Italien
Jahr: 2019
Regie: Robert Guédiguian
Drehbuch: Serge Valletti, Robert Guédiguian
Musik: Michel Petrossian
Kamera: Pierre Milon
Besetzung: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier, Robinson Stévenin, Lola Naymark, Grégoire Leprince-Ringuet
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