Eine Wiese zu Füßen des Himalaya: In zartem Pink blühen üppige Blumen. Ein Junge pflückt sie und bekränzt mit ihnen sein mönchisch kurz geschorenes Haupt. So idyllisch beginnt es. Der achtjährige Klosterschüler Peyangki hat noch nie ein Auto gesehen, geschweige denn einen Fernseher oder ein Mobiltelefon. Der kleine Bergstaat Bhutan ist das letzte Land der Erde, das das Internet einführt. Schnitt: Peyangki wacht zehn Jahre später von den Tönen seines Handys auf, checkt sofort die eingegangenen Nachrichten und schlägt dann den Gong, um seine Mitschüler zu wecken. Noch immer geht das Klosterleben seinen Gang. Aber das Smartphone, das wie ein Meteorit in die abgelegene Region einschlug, hat einiges verändert. Die Kamera zeigt die jungen Mönchsanwärter mit wippendem Oberkörper, buddhistische Formeln aufsagend. Dann weitet sich der Fokus und man sieht: Während sie beten, tippen alle auf ihrem Handy herum.
Krasses Beispiel universeller Probleme
Man sollte es gleich vorweg sagen: Dieser Film dreht sich nicht um digitale Hinterwäldler und ihre Probleme mit exzessivem, suchthaften Medienkonsum. Er geht uns alle an. Am krassen Beispiel eines übergangslosen Sprungs vom 19. ins 21. Jahrhundert seziert Regisseur Thomas Balmès wie unter einem Brennglas die zwischenmenschlichen Verluste einer allseits vernetzten Welt. Er verhandelt dabei ein irritierendes Paradox. Der Westen sehnt sich angesichts permanenter digitaler Alarmbereitschaft nach der atemberaubenden Schönheit des Himalaya, nach achtsamer innerer Einkehr und buddhistischer Lebensweisheit. Die abgelegenen Bergdörfer hingegen sind noch schutzloser den perfiden Strategien der großen Tech-Konzerne ausgeliefert als der Rest der Welt, der sich immerhin erst an das Fernsehen gewöhnen konnte und dann an die Anfänge des Internet, als es noch keine Smartphones gab und Facebook noch als Name für einen Buchladen durchgehen konnte.
Von den großen Verwerfungen erzählt eine kleine, leicht zu unterschätzende Geschichte mit sehenswerter Intensität: Klosterschüler Peyangki lernt über die Social-Media-App „WeChat“ die Internetsängerin Nguen aus Bhutans Hauptstadt Thiumphu kennen. Der Heranwachsende verliebt sich unsterblich in das Mädchen, das in erotischer Inszenierung Liebeslieder vorträgt und dafür mit einer Spitzenbewertung belohnt wird. Wegen der ständigen Ablenkung vernachlässigt er seine religiösen Studien und verlässt eines Tages sogar das Kloster, um sich in der Hauptstadt mit Nguen zu treffen. Sie hält ihn aufgrund seiner Selbstpräsentation in „WeChat“ für einen tollen Typen, der es im Leben zu etwas bringen wird, weil er mit dem Sammeln von Heilpilzen eine Menge Geld verdient. Aber das Treffen, das übrigens wie bei sehr vielen Menschen weltweit vom beiderseitigen Starren aufs Handy begleitet wird, hält eine herbe Enttäuschung bereit. Und zwar für beide Seiten.
Geduld wird belohnt
Der französische Regisseur Thomas Balmès kennt das kleine Bergdorf, dessen Kloster und den angehenden Mönch seit vielen Jahren. Schon seinen Vorgängerfilm Happiness (2013) hat er hier gedreht, ebenfalls mit Peyangki als einem der wichtigsten Protagonisten. In den ersten zehn Minuten von Sing Me A Song zitiert er die frühere Arbeit ausgiebig, um den Kontrast zum heutigen Internetzeitalter auch in Bhutan deutlich zu machen. Dann aber, mit dem Handyklingeln am frühen Morgen, wechselt die vorher bewegte Kamera zu stillen, oft statischen Einstellungen. Eindringliche Bildkompositionen erzählen die zarte Sehnsuchtsgeschichte ohne viel Dialog und vor allem ohne Off-Kommentar, Interviews oder sonstige Bewertungen. Der Film verlässt sich einfach auf das, was er sieht. Das ist so unglaublich dicht und fokussiert, dass man es für einen Spielfilm halten könnte. In Interviews versichert der Regisseur aber glaubwürdig, es sei nichts davon inszeniert oder geplant. Er habe einfach nur viel Geduld gebraucht.
Ein wenig Langmut verlangt Sing Me A Song auch von den Zuschauenden. Es ist, als atme der Film das, von dessen Bedrohung er erzählt: buddhistische Konzentration auf das Wesentliche, Entschleunigung des Geistes. So ruhig und beschaulich fügt er die Sequenzen aneinander. Positiv gewendet: So viel Raum lässt das vorurteilsfreie Hinschauen dem Publikum. Der ruhige Pulsschlag, das tiefe Luftholen holen zurück, was verloren schien: die Gedanken schweifen zu lassen, Schwingungen nachzuspüren und in sich zu gehen. Anlässe dafür gibt es genug, denn in ihrer Gelassenheit und ihrem Minimalismus verhandelt die unscheinbar daherkommende Dokumentation den tiefgreifendsten, weltumspannendsten Tumult unserer Zeit. Wie viele von uns genießen noch Wartepausen in ihrem Alltag, ohne gleich das Handy zu zücken? Wer leistet sich Auszeiten von der ständigen Ablenkung? Und wer kann ehrlich von sich behaupten, nicht mindestens ein klein wenig süchtig zu sein?
OT: „Sing Me A Song“
Land: Deutschland, Frankreich USA
Jahr: 2019
Regie: Thomas Balmès
Drehbuch: Thomas Balmès
Musik: Nicolas Rabaeus
Kamera: Thomas Balmès
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