Weihnachten 1991: Eigentlich könnte Diana (Kristen Stewart), Prinzessin von Wales liebend gern auf das Fest verzichten. Zumindest könnte sie auf die Leute verzichten, die sie dort sehen muss. Ihren Mann Prinz Charles (Jack Farthing) vor allem, zu dem sie kein besonders gutes Verhältnis mehr hat, nicht zuletzt wegen dessen Affäre. Aber auch der Rest der königlichen Familie, die ohnehin nie viel mit ihr anfangen könnte, kann ihr gestohlen bleiben. Einziger Lichtblick sind ihre Söhne William (Jack Nielen) und Harry (Freddie Spry). Während sie die Feiertage auf dem königlichen Sandringham-Anwesen in Norfolk verbringt und mit ihrer Rolle innerhalb der Königsfamilie hadert, kehren ihre Gedanken immer wieder zurück zu ihrer Kindheit und glücklicheren Tagen …
Zurück in die Vergangenheit
Nachdem Pablo Larraín zuletzt mit seiner Stephen King Adaption Lisey’s Story einen etwas unerwarteten Abstecher in das Horrorgenre gewagt hat, kehrt er mit Spencer zurück zu der Art Film, die ihn ursprünglich bekannt gemacht hat. Zum Teil zumindest. Dramen, die auf historischen Ereignissen basieren, gibt es in der Filmografie des chilenischen Regisseurs schließlich einige. Vor allem der Vergleich zu Jackie drängt sich auf. Wie in dem englischsprachigen Debüt aus dem Jahr 2016 nimmt er sich hier schließlich eine Ehefrau eines mächtigen Staatsmannes vor, die aber auch selbst zur Ikone wurde. Und erneut geht es darum, wie ein Mensch in dem von Traditionen und Regeln bestimmten Leben einen Platz für sich sucht, als Individuum wie auch als Frau.
Die Lebensumstände der beiden sind dabei natürlich kaum zu vergleichen. Während Jackie Kennedy im Umfeld der Ermordung ihres Mannes gezeigt wird, beschreibt Larraín in Spencer einen Prozess der freiwilligen Abnabelung. Nicht ohne Grund ist der Film nach dem Mädchennamen der Königin der Herzen benannt, bevor sie zum Teil der royalen Maschinerie wurde. Und doch sind sie beide Getriebene. Mehrfach wird Diana ans Herz gelegt, sie solle das einfach alles über sich ergehen lassen und zwischen dem äußeren und dem inneren Ich trennen. Doch dazu ist sie nicht in der Lage. Wenn sie darum ringt, alles hinter sich zu lassen, dann ist das gleichzeitig ein Akt der Selbstbestimmung wie eine Notwendigkeit. Sollte sie länger bleiben, in dem Schloss, in der Familie, in der Rolle, die mit so vielen Erwartungen verbunden ist, es wäre ihr Untergang.
Von Horrorvisionen heimgesucht
Das klingt etwas melodramatisch. Und doch gibt es in Spencer immer wieder Szenen, die auf verstörende Weise aufzeigen, wie sehr Diana verloren geht – in dem Anwesen wie in sich selbst. Ob die Arbeit am besagten Lisey’s Story ihre Spuren bei Larraín hinterlassen hat, das kann nur spekuliert werden. Zumindest ist es interessant, wie der neue Film auf Horrorvisionen setzt, welche die Prinzessin heimsuchen. Überhaupt bewegt sich das Drama immer wieder weg von dem Realen hin zum Fantastischen oder zumindest dem Fantasiereichen. So fühlt sich die Protagonistin der ermordeten Königin Anne Boleyn nahe, ausgelöst durch ein Buch, das sie in ihrem Zimmer findet. Und dann wären da noch die Erinnerungen an ihre Kindheit, die sich auf einmal zurück in ihr Leben kämpfen und sie daran erinnern, wer sie einmal war.
Das Ergebnis ist eine faszinierende Mischung aus Aufbruch und Rückblick, aus Hoffnung und Angst. Letzteres wird gerade auch durch die Filmmusik von Radiohead Musiker Jonny Greenwood (The Power of the Dog, A Beautiful Day) unterstützt. Mit den getragenen Klängen, wie man sie sonst oft in Biopics findet, hat das hier nichts gemeinsam. Vielmehr könnte man meinen, dass versehentlich der Score eines Horrorfilms eingelegt wurde. Die irgendwie bizarren, unheimlichen Töne verdeutlichen, wie fremd Diana in dieser Welt ist, während sie durch die Gänge und ihre Vorstellungen stolpert, auf der Suche nach einem Ausgang. Aber auch die düsteren Bilder der gefragten französischen Kamerafrau Claire Mathon (Porträt einer jungen Frau in Flammen) haben ihren Anteil daran, dass man sich hier nie sicher fühlt. Dass man nur darauf wartet, beim nächsten Schritt einem Geist zu begegnen. Zumal die Mitglieder des Königshauses selbst wie solche wirken.
Eine Parallelwelt abseits der Geschichte
Das ist alles ziemlich ungewöhnlich. Wer sich von Spencer ein reguläres Porträt der Königin der Herzen erwartet, dürfte mindestens überrascht, wenn nicht schockiert sein. Historisch akkurat ist der Film ohnehin nicht. Drehbuchautor Steven Knight (Im Netz der Versuchung) ließ da seiner Fantasie schon recht viel freien Lauf. Und doch liegt auf dem Drama, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2021 Weltpremiere feierte, ein ganz eigener Zauber. Der Schmerz der Prinzessin, die in den Klatschblättern zu Hause war, verselbständigt sich hier zu einem flüchtigen Monster von Film, das gleichermaßen berührt wie verwirrt. Und spätestens zum Schluss, wenn Larraín ein Wunder heraufbeschwört, hat man das Gefühl, diese Welt verlassen und eine Parallelwelt betreten zu haben, wo wirklich alles möglich ist. Sogar ein Happy End.
OT: „Spencer“
Land: UK, Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Pablo Larraín
Drehbuch: Steven Knight
Musik: Jonny Greenwood
Kamera: Claire Mathon
Besetzung: Kristen Stewart, Timothy Spall, Jack Farthing, Sean Harris, Sally Hawkins
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Golden Globes | 2022 | Beste Hauptdarstellerin | Kristen Stewart | Nominierung |
Venedig | 2021 | Goldener Löwe | Nominierung |
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