Deprimiert und verunsichert verlässt So-young (Youn Yuh-jung) die Arztpraxis. Die ihr diagnostizierte Geschlechtskrankheit kommt bei ihrer Berufung deutlich ungelegen. Sie ist eine sogenannte Bacchus-Lady: Eine Frau im Spätherbst ihres Lebens, die sich in den Parkanlagen Seouls für ältere Herrschaften prostituiert. Geldsorgen und der Wunsch, ihren Sohn auf ein amerikanisches College schicken zu können, haben sie anscheinend in die Sexarbeit getrieben. Auf dem Weg aus der Praxis stürzen plötzlich Sicherheitsbeamte an ihr vorbei und geleiten eine Frau heraus, die offenbar einen Arzt attackiert hat. Als So-young dann auch noch beobachtet, wie der der kleine Sohn der Frau auf deren Zurufe flüchtet, zögert sie nicht lange und nimmt das Kind bei sich auf. Zwar stellt sich die Kommunikation aufgrund einiger Sprachbarrieren zunächst als schwierig heraus, nach kurzer Zeit entsteht allerdings eine gewisse Bindung zwischen den beiden verlorenen Seelen.
Der zweite Blick lohnt sich
Der Grundstein für eine kurzweilige Tragikomödie scheint gelegt. Was auf den ersten Blick jedoch vermuten lässt, dass So-young durch die Aufnahme des fremden Kindes eine gewisse Charakterentwicklung durchlebt, die vielleicht auch im Bezug auf ihren Beruf zu einem Sinneswandel führen könnte, entpuppt sich kurz darauf als gefühlvolles Drama voller schräger und liebenswürdiger Charaktere. Nach der Exposition konzentriert sich The Bacchus Lady zunehmend auf verschiedene Kunden So-youngs. So entsteht keine stringent laufende Erzählung, sondern eher der Abriss einer verarmten und veralteten Gesellschaft, die es gelernt hat, die kleinen Dinge im Leben wertzuschätzen. Episodenartig werden Charaktere im Umfeld der Protagonistin beleuchtet, die alle ihre eigene Marotten haben, dabei aber immer sehr nachvollziehbar geschrieben sind.
Diese Geschichten können mal herzerwärmend, mal herzzerreißend und mal beides zugleich sein. Wenn beispielsweise So-youngs langjähriger Kunde Jae-Woo (Jeon Moo-song) sie einfach nur noch zum Reden aufsucht, da er zu Anderem nicht mehr in der Lage ist und beide in der gemeinsamen Zeit sehr gute Freunde geworden sind, dann kann das zwar befremdlich, dennoch auch sehr rührend wirken. Viele Personen im Umfeld So-youngs stehen also offensichtlich am Ende ihres Lebens, wobei immer wieder eine Frage unausweichlich im Raum steht: Was hat das Leben noch zu bieten, wenn langwierige Weggefährten sterben und der Körper nicht mehr so funktioniert, wie er sollte? Der Film schaffte es trotz seiner eher morbiden Tonalität immer wieder die richtige Mischung von Komik und Tragik zu vereinen. Das führt zu eigenartigen, so noch nie dagewesenen Momenten, die im Rahmen dieser Rezension allerdings nicht vorweggenommen werden sollen.
Visuell bietet The Bacchus Lady viele ruhige und lang stehende Kameraeinstellungen. Das wirkt oft sehr gut punktiert, an anderen Stellen nehmen diese langen Einstellungen, in denen auch szenisch relativ wenig passiert, etwas das Tempo aus dem Film heraus. Auch musikalische Untermalung kommt, wenn dann nur sehr subtil zum Einsatz. Diese ruhige und langsame Erzählzeit kann bei einer Laufzeit von fast zwei Stunden also ein wenig einschläfernd wirken, wobei sich der Film jedoch darin versteht, sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer und Zuschauerinnen durch interessante Wendungen in der Story immer wieder zurückzuholen.
Wahl oder Zwang?
Während Charaktere in ihrem Umfeld als sehr klar geschriebene Figuren funktionieren, bleiben So-youngs Motivationen und Wünsche immer ein bisschen undurchsichtig. Ob die Arbeit als Bacchus Lady nun eine Qual ist oder ihr eventuell auch Spaß bereitet, wird im Laufe des Films nicht ganz ersichtlich. So gibt es auf der einen Seite Szenen, die zeigen, wie intensiv und unschön diese Arbeit sein kann, wenn die Protagonistin zu gewissen sexuellen Tätigkeiten gezwungen wird. Auf der anderen Seite umgibt So-young sich und ihre Beschäftigung mit einer gewissen Mystik und Ehrfurcht, was wiederum auch Stolz vermittelt. Suggeriert wird also, dass mehr dahinterstecken könnte als bloße finanzielle Sorgen. Diese Undurchsichtigkeit wird von der Schauspielerin Youn Yuh-jung fabelhaft portraitiert, die spätestens durch den Gewinn eines Academy Awards im Zuge von Minari – Wo wir Wurzeln schlagen ihr schauspielerisches Talent nun auch auf internationaler Bühne endgültig unter Beweis gestellt hat. Allgemein tragen die sehr authentischen Schauspielleistungen des Ensembles zur gefühlvollen Atmosphäre des Films bei.
OT: „Jug-yeo-ju-neun Yeo-ja“
Land: Südkorea
Jahr: 2016
Regie: J-yong E
Drehbuch: J-yong E
Musik: Young-gyu Jang
Kamera Young-No Kim
Besetzung: Yuh-Jung Youn, Moo-Song Chon, Kye-Sang Yoon, A-Zu An
Berlinale 2016
Fantasie Film Festival 2016
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