Venedig ist zauberhaft schön, aber das dortige Krankenhaus sieht aus wie überall. „Willst du hier gesund werden“, stellt David-Ruben Thies stirnrunzelnd eine rhetorisch gemeinte Frage. Der Mann, der sich Kliniken in aller Welt mit der gleichen Faszination anschaut, wie andere Menschen Museen besuchen, kommt aus dem thüringischen Eisenberg. Er ist Geschäftsführer der dortigen Waldkliniken und hat die Chance, etwas grundlegend anders zu machen. Bei ihm soll sich der Patient künftig wie ein Hotelgast fühlen, nicht umherlaufen auf öden Fluren und in tristen, rein funktionalen Zimmern liegen. Denn die Kreis-Kliniken des 11.000-Einwohner-Städtchens sind Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Ein Neubau ist bewilligt und darf 62 Millionen Euro kosten, nicht mehr als jedes vergleichbare Spital mit gleicher Bettenzahl. Eine ansprechende Kreisform soll es werden, entworfen von Star-Architekt Matteo Thun, licht und wohnlich. Geplant ist eine Art Sternehotel, wo jeder „Gast“ aus seinem Bett in den Wald schaut, wo es im Eingang nach Kaminfeuer riecht und wo die Pflegerinnen und Pfleger deutlich weniger Menschen betreuen müssen als anderswo. Aber geht das überhaupt im deutschen Gesundheitssystem? Und kann sich der normale Kassenpatient das leisten?
Bessere Medizin für alle
Seit 2018 hat Dokumentarfilmerin Antje Schneider den umtriebigen Geschäftsführer begleitet und quasi zwei Filme in einen geschnitten. Zum einen den spannenden Kampf gegen Hindernisse jeden Tag bis zur Einweihung des neuen Baus. Zum anderen die Diagnose des deutschen Gesundheitssystems, bei dem mehr im Argen liegt als nur die oftmals einfallslose Architektur. Denn David-Ruben Thies sieht sich nicht in erster Linie als Lobbyist, der für „sein“ Haus das Beste herausholt. Er kämpft für gastfreundliche Patientenhotels in ganz Deutschland, für ganz normale Kassenversicherte. Dass diese selbst innerhalb des bestehenden Systems machbar sind, dafür soll Eisenberg, eine Fachklinik für Orthopädie und zugleich Allgemeinkrankenhaus der Grundversorgung, als Beispiel und Beweis dienen.
Es ist beeindruckend, wie elegant Antje Schneider und ihr Cutter Carsten Waldbauer hochkomplexe Themen in filmgerechten Häppchen servieren. Und das nicht durch Vereinfachung, sondern durch beherztes Anreißen teils hochemotionaler Fragen. Ein zwar nicht neues, aber immer noch brisantes Beispiel: überflüssige Operationen, die den Kliniken viel Geld bringen. „Deutschland hat im letzten Jahr so viele Prothesen eingesetzt wie alle anderen EU-Mitgliedsstaaten zusammen“, sagt Thies. Als Geschäftsführer einer Fachklinik für Orthopädie schneidet er sich mit der Kritik quasi ins eigene Fleisch. Dennoch sucht er Alternativen, nach einem besseren System als dem deutschen, das OPs belohnt und Prävention bestraft. Er fährt nach Maastricht in die Niederlande und lässt sich erklären, wie die Holländer mit 80 Prozent weniger Krankenhausbetten pro Einwohner und dreimal niedrigeren Kassenbeiträgen klarkommen, unter anderem durch den Verzicht auf vorschnelles Operieren. Natürlich könnte man einen ganzen Film nur über dieses eine Thema drehen, könnte Pro und Contra hören, könnte ökonomische Zusammenhänge und fehlende Präventionsstrategien ausleuchten. Aber Vier Sterne plus lässt sich, sehr zu seinem Vorteil, darauf nicht ein. Der Film wirft die Provokation in den Raum und überlässt den Streit um die Details einer möglichen Debatte im Anschluss an den Kinobesuch.
Nah am Nervenzusammenbruch
Die vielen Reisen des Geschäftsführers und den Fokus auf Architektur nutzt Carsten Waldbauer, der auch die Kamera führte, zu bildstarken Eindrücken. Und der durchaus streitbare Charakter von David-Ruben Thies sorgt für eine Vielschichtigkeit, die einer Verklärung zum Superhelden entgegenwirkt. Die Kamera schaut genau hin, wenn sich der oft getrieben wirkende Mann schon wieder eine Zigarette anzündet – für einen Reformer des Gesundheitswesens wahrlich keine Glanzleistung. Und der Schnitt springt keineswegs weiter, wenn der sich selbst und andere manchmal überfordernde Manager in seiner Ungeduld und zuspitzenden Art nah am Nervenzusammenbruch entlangschrammt. Es ist sicher kein Zufall, dass Thies nach vollbrachter Tat ein halbes Jahr Auszeit braucht.
Außer Frage steht dabei, dass der Mann aus Eisenberg Großes geleistet hat. Irgendwann im ersten Filmdrittel fragt ihn jemand bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten, warum er, der als Pfleger angefangen hat, später ins Management gewechselt sei. Antwort: Weil er es satt hatte, immer nur die Kollegen jammern zu hören und niemanden zu treffen, der wenigstens in seiner Abteilung etwas besser machen wollte. Nun sitzt er nach der Auszeit wieder auf seinem Geschäftsführerstuhl und wird nicht müde, sich in die Gesundheitspolitik der neuen Regierung einzumischen. Die Themen, die Thies und der Film anreißen, sind längst nicht erledigt. Da passt es sehr gut, dass der Verleih auf einer Kinotour Filmgespräche mit hochrangigen Gesundheitspolitikern plant.
OT: „Vier Sterne plus“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Antje Schneider
Drehbuch: Antje Schneider
Musik: Anna Kühlein
Kamera: Carsten Waldbauer
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