Frankreich, 1940. Der zwölfjährige Rolf (Julius Weckauf) und sein Vater Ludwig (Volker Bruch) haben Spaß am Marseiller Strand, aber sie sind nicht zum Urlaub hier. Journalist Ludwig musste aus Nazi-Deutschland fliehen, weil er kritische Artikel über Hitlers Verbrecher-Regime geschrieben hat. Eigentlich wollten Vater und Sohn in der südfranzösischen Hafenstadt ein Schiff nach New York nehmen, wohin Mutter und Ehefrau Katja (Anna Maria Mühe) schon vor drei Jahren auswanderte. Aber diese Fluchtroute ist inzwischen dicht. Es bleibt nur der Zug Richtung Pyrenäen und der „Spaziergang“ über das Gebirge nach Spanien, wie der Vater das beschönigend nennt, und dann nach Portugal, von wo noch Schiffe nach Amerika fahren. Das Mädchen Núria (Nonna Cardoner), nur ein Jahr älter als Rolf, soll die beiden samt Familienhund „Adi“ führen. Das geliebte Tier mitzunehmen, erweist sich jedoch als schwerer Fehler in dem Kinder- und Familienfilm. Grenzsoldaten schnappen den Vater, Rolf und Núria müssen allein in den Bergen klarkommen.
Die Macht der Fantasie
Eine Pause vom tagelangen Marsch. Der noch kindlich-versponnene Rolf erzählt der pragmatisch-ernsten Núria die Geschichte von Erich Kästners Der 35. Mai, dem Lieblingsbuch des Jungen, das er nie aus der Hand gibt. Er erklärt ihr die „verkehrte Welt“, in der die Kinder alles dürfen, die Erwachsenen jedoch in die „Benimmschule“ müssen. Ein Hauch von Magie huscht über die Leinwand und über das Gesicht des burschikosen Mädchens. Der Tonfall ist locker und komödiantisch-leicht. Zum ersten Mal scheint Núria an dem pausbäckigen, tollpatschigen „Klugscheißer“ etwas zu entdecken, das auch sie fasziniert: die Macht der Fantasie. Doch die Idylle endet jäh. Harter Schnitt, Partisanen tauchen auf, Getümmel, Durcheinander, Gefahr. So geht es oft in der kindgerechten Inszenierung von Regisseur Tobias Wiemann (Amelie rennt). Auf Witze, Fantasie und coole Sprüche folgen Drama oder Gefahr – und umgekehrt, rasch wechselnd in stetiger Folge.
Das erlaubt es Drehbuchautor Rüdiger Bertram, in seiner fiktiven Bearbeitung von Lisa Fittkos Erinnerungsbuch Mein Weg über die Pyrenäen, zwei Geschichten in einer zu erzählen. Zum einen die kinderfilmtypische Abenteuerstory, angefeuert vom witzigen, liebevollen Vater, der seinem Sohn die Härten der Vertreibung durch eine rosarote Brille verschönert. Zum anderen das universelle Schicksal sämtlicher Vertriebener zu allen Zeiten und an allen Orten, gespiegelt in einer konkreten Erfahrung. Die von Lisa Fittko ausgetüftelte Route über die Pyrenäen half 1940 einer Reihe von Verfolgten zur Flucht, denen die Nazis auch im kollaborierenden Vichy-Regime nachstellten. Der bekannteste war der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin, der es zwar nach Spanien schaffte, aber mangels gültiger Papiere nicht einreisen durfte und in der Grenzstadt Portbou zu Tode kam. Noch heute heißt der Pfad, auf den sich der Film bezieht, „Chemin Walter Benjamin“. Ein Stoff, der in seinen Details wohl mehr Erwachsene interessieren dürfte.
Ohne belehrenden Zeigefinger
Mit seiner doppelten Tonlage erinnert Der Pfad an den thematisch verwandten Familienfilm Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (2019) von Caroline Link. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Die Dramödie von Tobias Wiemann kommt mit wesentlich weniger Belehrung aus. Er hält die Jüngeren mit Spannung, Komik und einem putzigen Vierbeiner bei Laune, ohne sie mit politisch-moralischen Fragen zu belasten, wenn sie das nicht wollen. Trotzdem schwingt in der Vielschichtigkeit des Films ein freiwilliges Angebot mit: nachzufragen, wer denn etwa die Rebellen auf spanischer Seite waren. Oder was es mit den mal gutmütigen, mal gefährlichen Franzosen auf sich hatte. Und warum Rolfs Mutter schon in New York war. Kurzum: Mit den Eltern darüber zu reden, warum Menschen fliehen müssen und wie sich das anfühlt. Der Film selbst vermeidet bevormundende Aktualisierungen. Erst auf einer Schrifttafel im Abspann schlägt er den Bogen zu seiner durchaus vorhandenen, aber erfreulich dünn aufgetragenen Botschaft.
Zum mainstreamtauglichen Wohlfühlfaktor trägt Hauptdarsteller Julius Weckauf entscheidend bei. Der Kinderdarsteller, der dem jungen Hape Kerkeling in Der Junge muss an die frische Luft (2018) seine Physiognomie lieh, greift in Der Pfad auf ganz ähnliche schauspielerische Mittel zurück – und sie passen erneut wie die Faust aufs Auge. Mit seiner Pummeligkeit, seinem altklugen Charme und seinen eigensinnigen Träumereien erspielt sich der inzwischen 14-Jährige eine komödiantische Leinwandpräsenz, die im Kontrast mit dem herben Realismus von Nonna Cardoner noch heller leuchtet. Fast, als handele es sich um eine Screwball-Comedy für Kids.
OT: „Der Pfad“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Tobias Wiemann
Drehbuch: Rüdiger Bertram
Vorlage: Lisa Fittko
Musik: Peter Horsch, Tobias Kuhn, Markus Perner
Kamera: Martin Schlecht
Besetzung: Julius Weckauf, Nonna Cardoner, Volker Bruch, Bruna Cusí, Jytte-Merle Böhrnsen, Maria Pau Pigem, Anna Maria Mühe
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