Die Kritikeranalyse #3: Bahnhofskino [Interview]

Willkommen bei der dritten Ausgabe der Kritikeranalyse. Googelt man einmal nach Podcasts über Filmkritik und tiefgründige Auseinandersetzungen mit Kino und TV, stößt man nicht viel später auf Bahnhofskino. Hier wird im Wochenintervall von Science-Fiction und Horror, über Action und Exploitation bis hin zu Psychotronik alles ausgepackt, was das Kino zu bieten hat. Zu Gast bei der Kritikeranalyse ist Patrick Lohmeier, der mit Daniel Gramsch das Projekt 2012 ins Leben gerufen hat. Überraschenderweise gibt es bereits jetzt die erste Übereinstimmung in puncto mutige Filmempfehlungen.

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Für Menschen, die dich nicht kennen: Was kann man konkret von deinen Filmkritiken erwarten und in welcher Hinsicht hebst du dich von anderen Filmkritikern ab?

Es war nie mein Anspruch, mich durch irgendein Gimmick oder eine andere Form der Selbstinszenierung von anderen Kritikerinnen und Kritikern abzuheben. Ich möchte einfach kaum sichtbares Kino etwas sichtbarer machen. Meine große Liebe gilt seit vielen Jahren dem Genrefilm, gerne auch etwas deftiger Bauart: Horror, Exploitation, Action, Outsider Art. In jedem Fall Kino, das in der konservativen Filmkritik vergleichsweise selten stattfindet. Und wenn es thematisiert wird, dann immer noch oft genug mit spitzen Fingern und tendenziell abschätzig. Diesbezüglich war und ist uns die französisch- und englischsprachige Kritik und Filmwissenschaft sicher um Jahrzehnte voraus, wo Menschen wie Carol Clover, Christopher Frayling, Manny Farber und viele andere Lanzen für das B-Kino brachen. Auch im deutschsprachigen Umfeld hat sich in den letzten Jahren einiges verbessert, wenn sich auch die kritische Wertschätzung dieser Kunstform immer noch überwiegend auf cinephile Bubbles beschränkt, die gerne unter sich bleiben. Ich halte nichts von solchen Mauern und ein Podcast erschien mir damals wie eine gute und vor allem finanzierbare Möglichkeit, meine Leidenschaft für das abseitige Kino mit möglichst vielen Menschen zu teilen. Dazu kam, dass es unter der gerade mal Handvoll deutschsprachiger Filmpodcasts vor rund zehn Jahren noch kein Format gab, das sich regelmäßig differenziert und respektvoll mit B-Movies und vulgärem Kommerzkino vergangener Tage auseinandersetzte. Also haben sich dies mein Co-Host Daniel Gramsch und ich auf die Agenda gesetzt. Die Hauptrolle spielen aber nicht wir, sondern die wöchentlich von uns rezensierten Filme. Und Antworten auf die Fragen, was sie uns über die Menschen hinter und in den Kulissen, ihre Entstehungszeit und ihr Publikum erzählen. Natürlich genießen wir dabei die vergnüglichen Aspekte dieser Stoffe, ein Urteil der künstlerischen Qualität anhand standardisierter Kategorien wie Güte der Spezialeffekte, Härtegrad eines Horrorfilms oder des Nostalgiefaktors umschiffen wir dabei aber, so gut es geht.

Welche Menschen möchtest du am ehesten mit deinem Format ansprechen?

Natürlich sind uns alle Menschen als Hörer*innen gleichermaßen willkommen. Neugierde auf Kinogeschichte, politisches Interesse und Bereitschaft für Neues ist sicher nicht verkehrt, wenn man mit unserer oft kuriosen, teils sperrigen Filmauswahl glücklich werden möchte. Belastbare Daten zu Alter und Geschlecht unseres Publikums kenne ich nicht. Aber ich versuche regelmäßig im Dialog in Social-Media-Kanälen, thematische Vorlieben zu ermitteln, um diese im Bahnhofskino und meinen anderen Formaten zu berücksichtigen. Am Ende des Tages folgen Daniel und ich aber dann doch bei der Programmauswahl in 90 Prozent aller Fälle unserem Bauchgefühl.

Was bedeuten Filme persönlich für dich und warum gerade dieses Medium und nicht beispielsweise andere Medien wie Theater, Oper, Musik oder Literatur?

Filme sind mein wichtigstes Fenster zur Welt und die gemeinsame Liebe zum Kino ein Grundpfeiler vieler meiner engsten Freundschaften. Ein Leben ohne Kino und den Austausch darüber kann und mag ich mir nicht vorstellen. Literatur folgt gleich dahinter in meiner persönlichen Topliste der von dir genannten Künste. Wobei es mir weniger gut gelingt, das Lesen in meinen Alltag einzubinden. An freien Tagen oder im Urlaub kann ich aber mühelos von früh bis spät in einem Buch versinken.

Gab es schon einmal eine Situation, in der du dich mit jemand über einen Film streiten musstest? Wenn ja, was genau ist dein Anspruch? Geht es dir – auch in deinen Kritiken – um den Dialog, um Aufklärung oder um etwas ganz anderes?

Sicher gab es solche Situationen, sie beeindrucken mich allerdings zu wenig nachhaltig, als dass ich sie benennen könnte. Während des Studiums und dann wieder in den Anfangsjahren des Bahnhofskinos war mein Ehrgeiz größer, Menschen zu bekehren. Gleichzeitig war meine Toleranz für Kritik jeder Art, von sachlichem Feedback bis hin zu größtmöglicher Trollerei, eher gering. Dutzende fruchtlose Diskussionen und Hunderte konträre Kommentare und Tweets später ist die Versuchung, mich wegen einer abweichenden Meinung zu streiten, aber gleich Null.

Kannst du das nachvollziehen, wenn jemand einen Film aufgrund einer gänzlich anderen Herangehensweise gut findet, währendem du diesen Film aus deiner Sicht als schrecklich empfindest? Und denkst du, dass beide Meinungen gleich viel wert sind?

Unbedingt. Und unbedingt. Ich erwarte oder erhoffe zumindest ein gesundes Maß an Akzeptanz dafür, dass ich mich mit akademisch unterfütterter Neugier und Sympathie mit gemeinhin als trivial, ordinär oder populistisch geltendem Entertainment auseinandersetze. Entsprechend muss ich auch jedem Menschen zugestehen, diese Art von Kino zu meiden oder sie als trashiges Wegwerfprodukt zu bewerten. Ich wünsche mir lediglich, mein Gegenüber kann ihren oder seinen Standpunkt nachvollziehbar vermitteln.

Was genau muss ein herausragender Film bei dir mitbringen?

Anknüpfend an die letzte Frage kann ich beispielsweise gut verstehen, wenn jemand einen Film aufgrund einer spannenden Geschichte und überraschender Wendungen gelungen findet. Ich selbst habe daran kaum Interesse. Zumindest wiegt es in meinen Augen keine flache Inszenierung und uninspirierte Figuren auf, wenn das einzige Kapital eines Films erzählerische Taschenspielertricks sind. Viele Disziplinen des Genrekinos sind in ihrer Dramaturgie sehr formelhaft. Bei aller Liebe zum Western, Horrorkino oder Stoffen aus dem Reich des Fantastischen – es sind doch story-seitig meist Varianten altbekannter Topoi und Figuren. Umso spannender ist die Antwort auf die Frage, ob es den kreativen Köpfen dahinter gelingt, diesen eine neue ästhetische, politische oder sonstwie unkonventionelle Perspektive abzugewinnen. Wenn es ein Film schafft, mehr als das Erwartbare zu zeigen und dabei auch noch zu überraschen, kann er mich begeistern.

Welche Rolle spielen Gefühle bei der Filmrezeption bei dir? Und ist ein Film automatisch gut, wenn man bspw. Gänsehaut verspürt oder feuchte Augen bekommt?

Ich fühle beim Filmeschauen gerne viel und lasse diesen Gefühlen auch freien Lauf. Gänsehaut und Tränen sind keine Seltenheit. Ob solche Reaktionen ein verlässlicher Indikator für die Qualität des Werks sind, wage ich zu bezweifeln. Dafür gibt es vermutlich zu viel filmisches Mittelmaß, das nur in einer einzigen Szene brilliert und emotional berührt. Grundsätzlich suche ich aber natürlich stets die emotionale Nähe zum Film. Dafür darf mich dieser auch gerne einmal in eine Gefühlslage außerhalb meiner sogenannten Komfortzone manipulieren.

Wie würdest du die Wichtigkeit von Emotionalität, Storytelling, Ideologie (Was sagt ein Film über unsere Welt aus?), Inszenierung, Virtuosität, Ästhetik und weiteren Aspekten bei der Filmrezeption sortieren?

Ich verweigere mich der Anwendung einer Art Checkliste für gutes Kino. Wenn ich einen sauber recherchierten, inhaltlich relevanten Dokumentarfilm gucke, begegne ich ihm mit der gleichen Wertschätzung wie einem virtuos inszenierten Liebesfilm, der mich eher auf der Ebene des Bauchgefühls als intellektuell begeistert. Gleichermaßen gibt es dramaturgisch wie ästhetisch betörende Filme, die ideologisch durch und durch korrupt sind. Auch sie haben das Potential zum Meisterwerk.

Wenn man auf die Entstehungsgeschichte eines Films schaut, angefangen bei der Idee, bis hin zur Umsetzung und dem fertigen Resultat, welche Faktoren spielen die größte Rolle, wenn man den Anspruch hat, ein filmisches Meisterwerk zu kreieren?

Ich glaube nicht daran, dass es dafür ein Regelwerk oder eindeutig zu benennende Parameter gibt. Und falls diese doch einmal irgendwo formuliert wurden, täte jede Künstlerin oder jeder Künstler gut daran, sie zu ignorieren.

Schaut man auf Hollywood, hat es den Anschein, dass in manchen Kreisen die Stimmen immer lauter werden und viele Fans mit den neuen Star Wars-Filmen oder selbst mit einem Fast and Furious 9 sehr unzufrieden sind. Bewegt sich Hollywood in Richtung eines Tiefpunkts oder denkst du es braucht solche Filme auch, sodass Regisseure daraus lernen?

Ich bin zu wenig am zeitgenössischen Kino interessiert, um allgemeingültige Aussagen darüber zu treffen. Ich glaube aber nicht, dass es weniger gute Filme gibt als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren.

Wie vergleichst du die Filmrezeption, muss ein Film gleich bei der Erstsichtung direkt überzeugen oder würdest du doch eher sagen, dass man einen Film erst im Laufe der Zeit zu schätzen lernt?

Nicht die Kunst ändert sich im Laufe der Jahre, sondern die eigene Perspektive darauf. Aus diesem Grund halte ich auch die Aussage, ein Film sei schlecht gealtert, für problematisch. Akzeptabel ist dieser Standpunkt vielleicht, wenn vom vermeintlich harmlosen Lieblingsfilm aus Kindheitstagen Jahrzehnte später nur 90 Minuten unzeitgemäßer Klischees und diskriminierender Stereotype übrig bleiben. Genauso kann sich natürlich der prätentiöse Langweiler aus Jugendtagen im reiferen Alter als reinste Kinomagie entpuppen. Ich bin ein großer Fan des Wiedersehens mit Filmen, die beim Erstkontakt nicht vollends begeistern konnten, aber vielleicht genug Reize boten, um die Neugier ein zweites Mal zu entfachen. Wichtig ist nur, solche Exemplare im Auge zu behalten.

Womit kannst du dich in der Hinsicht eher anfreunden und warum: ein Film, den du nach der Erstsichtung grandios findest, der aber mit jeder weiteren Sichtung abnimmt oder ein Film, der von Sichtung zu Sichtung immer weiter wächst?

Vermutlich letztgenannte Konstellation. Da habe ich doch perspektivisch mehr davon als von einem Film, der nur einmal richtig gut ist.

Kritik ist und bleibt immer subjektiv. Man kann jedoch trotzdem den Anspruch haben, ein wenig Objektivität miteinfließen zu lassen. Sollte da eher eine goldene Mitte gefunden werden oder spielt Objektivität keine so große Rolle?

Mein Luxus und der anderer unabhängiger Kritiker*innen ist, nicht objektiv sein zu müssen. Dies ist natürlich nicht gegeben, wenn der Dienstleistungsgedanke überwiegt, beispielsweise in den meisten klassischen Medien mit breit gefächertem Publikum, in denen Filme primär nach ihrer technischen Kompetenz oder vermeintlichen Popularität beurteilt werden. Persönliche Vorlieben der Kritikerin oder des Kritikers stehen natürlich hintenan, wenn es darum geht, in einer Regionalzeitung oder TV-Zeitschrift das neueste Marvel-Spektakel oder den Tatort zu rezensieren. Dass die hier und da im Feuilleton, in unabhängigen Podcasts oder Blogs verfügbare Kritik mit den Benimmregeln einer vermeintlich objektiven Kritik bricht, mag da zuweilen irritieren. Oder auch mal stören. Ich nehme mich da gar nicht aus dieser Gleichung heraus, weder als Störenfried noch als jemand, der sich auch mal an allzu persönlich gefärbten Filmbesprechungen stört. Das Verschwinden einer sogenannten objektiven Filmkritik oder -analyse, die in den meisten Publikationen ohnehin nur ein Euphemismus für redaktionell glatt gebügelten, tendenziell kunstfeindlichen und optimal vermarktbaren Meinungskonsens ist, bedauere ich nicht. Insbesondere nicht in Zusammenhang mit dem von dir zitierten Geschmäckle des Absoluten, mit dem mir vor der medialen Demokratisierung des Onlinezeitalters eine vergleichsweise überschaubare Anzahl von Publikationen quasi vorschrieb, was denn nun sehenswert sei und was nicht. Kurz und knapp: Zugunsten größtmöglicher Vielfalt in der Filmkritik nehme ich so gut wie jede subjektive und auch kontroverse Meinung in Kauf, solange diese nur nachvollziehbar artikuliert bzw. argumentiert ist.

Wie sieht deine Meinung generell über andere Kritiker aus? Was genau zertifiziert jemanden zu einem guten Kritiker und gibt es da Kanäle, die du gern verfolgst?

Die Antwort hierauf kann ich unmöglich auf wenige Sätze herunterbrechen. Ich lese einige zeitgenössische kritische Stimmen aufmerksam und regelmäßig – Dietmar Dath, Manohla Dargis, Anthony Lane, Lukas Foerster, Emily Nussbaum, etc. Bestimmt vergesse ich jetzt rund ein Dutzend. Das sind allesamt etablierte Namen. Fast noch spannender sind aber brillante Autodidakten ohne filmwissenschaftliche Credentials. Blogger*innen und Podcaster*innen wie Vern (Outlaw Vern), Sonja Hartl (Zeilenkino), Oliver Nöding (Remember it for later), Mike White (The Projection Booth), Nathan Rabin (Nathan Rabin’s Happy Place), Karina Longworth (You Must Remember This) und, und, und. Es ist mir wichtig, mich ständig mit anderen kritischen Stimmen auseinanderzusetzen, um mich weiter zu entwickeln. Natürlich habe ich, auch im Rahmen meines Studiums, dafür viele Standardwerke gelesen, aber mit jedem Jahr grabe ich mich tiefer in die Welt der Außenseiter-Filmkunst hinein. Mit FAB Press, Strange Attractor, Spectacular Optical und Headpress gibt es gerade im englischsprachigen Ausland viele Kleinverlage, die sich auf psychotronische Popkultur und Kino spezialisiert haben.

Je nach Publikumserfolg reden die meisten Menschen immer nur über die „relevantesten“ Filme oder die, die gerade „in“ sind. Wie siehst du das an, ist das ein Problem? Und was fallen dir für grandiose (Neu-)Produktionen ein, bei denen du vermutest, dass diese wahrscheinlich nur die allerwenigsten kennen?

Persönlich nehme ich dieses Phänomen nicht als Problem wahr. Zum einen, weil es innerhalb meiner eigenen Lebenszeit nie anders war. Der maßgebliche Unterschied im Kino meiner Kindheit und Jugend war lediglich, dass es mehr diskussionswürdige Filme gab, die kein Sequel, Spinoff oder Reboot waren. Die gab es natürlich auch, aber vor der medialen Allmacht IP-getriebener Nerd Culture war das selten mehr als ein möglichst schnell produzierter Aufguss des Originals. Das sorgt zugegebener Weise für eine gewisse Indifferenz meinerseits, wenn der fünfte Spider-Man innerhalb von fünf Jahren allerorten emotional debattiert wird. Zudem spielen solche Großproduktionen weder im Freundeskreis noch in meiner Social Media Bubble eine besonders wichtige Rolle. Grundsätzlich freue ich mich aber darüber, wenn ein neuer Kinostart die Emotionen kollektiv überkochen lässt. Die Filmindustrie ist eben genau dies, ein Wirtschaftszweig, und somit zumeist nur größtmöglicher Profitabilität verpflichtet, nicht etwa meiner Erwartungshaltung. Der Austausch über Filmkunst, gleich welcher Größenordnung, befeuert mich ja auch seit Jahren in meiner Tätigkeit als Kritiker und Podcaster. Ich wünschte mir eben nur, es beträfe öfter Produktionen, die kreative Wege beschreiten anstatt sich auf ihre Marke oder grandiose Marketingkampagnen verlassen zu können.

Beim Thema grandiose Neuproduktionen hat mich Hunter Hunter von Shawn Linden mit seiner Konsequenz und emotionalen Härte sehr beeindruckt. Ebenso wie der politisch sehr viel aufgeladenere The Nightingale von Babadook-Regisseurin Jennifer Kent. Censor von Prano Bailey-Bond gelingt die sehr heikle Gratwanderung zwischen metafilmischen Aspekten, Retrochic und klassischer Horrordramaturgie. Ihr Film hat mich sehr an Peter Stricklands Schaffen erinnert, das ich ebenfalls sehr schätze. Zuletzt habe ich mich auch etwas in Strange Dreams verliebt. Dessen Hauptdarstellerin Julia Sarah Stone hätte in diesem Jahr wohl jeden Schauspielpreis ihrer kanadischen Heimat verdient.

Nachdem ich letztens Be Natural über die mutige Filmpionierin Alice Guy-Blaché geschaut habe, interessiere ich mich für Filme, die ihrer Zeit voraus sind und sich etwas trauen. Auf welchen Film warst du zuletzt froh oder stolz, dass man sich mal etwas Waghalsiges getraut hat?

Als langjähriger Dominik-Graf-Fanboy muss ich natürlich zuerst an Fabian oder Der Gang vor die Hunde denken. Es ringt mir großen Respekt ab, was Graf sich und den kreativen Menschen an seiner Seite abverlangt. Und das in einem Alter – der Regisseur ist Jahrgang 1952 – in dem die meisten Filmschaffenden künstlerisch kaum noch neue Wege beschreiten. In dem Film steckt aber so etwas wie jugendlicher Ehrgeiz, eine fast kindliche Neugier und der Mut, auch mal Fehler zu machen. Was mich im Falle dieses Films natürlich besonders freut, ist, dass er damit nicht nur bei der Kritik sondern auch beim Publikum offene Türen einrennt. Zumindest, soweit ich das beurteilen kann. Beim Stichwort ‘waghalsig’ muss ich aber an Saint Maud (2019) der britischen Regisseurin Rose Glass denken, der theologischen Diskurs mit viszeralem und Horror zu einem faszinierenden Paket schnürt. Die Tonalität erinnerte mich an Paul Schraders ebenfalls großartigen First Reformed. Apropos Schrader, beim Stichwort ‘mutiges Kino’ darf sein kompromisslos unzeitgemäßer The Card Counter natürlich nicht fehlen, der zu meinen liebsten Filmen des letzten Jahres gehört. Grundsätzlich bin ich sowieso erst einmal enthusiastisch, wenn im Kontext von Genrestoffen große Fragen und gesellschaftspolitische Themen verhandelt werden. Aber dazu gehört viel Talent, und dies besitzt Glass ganz offensichtlich. Ich bin darauf gespannt, was sie auf ihr schmerzhaft-schönes Debüt folgen lässt.

Für Leute, die schon mehrere tausend Filme gesehen haben und das Beste vom Besten kennen, was sind deiner Meinung nach gute Orientierungspunkte, um auf sehenswerte Filme zu stoßen?

Da muss ich mich enthalten. Ich denke das sollte jeder für seine eigene Person herausfinden.

Was ist das Schlimmste im Kino für dich: Trashfilme, die nächste deutsche Durchschnittskomödie oder doch etwas ganz anderes? Und sind alle gleichermaßen schlimm oder wie differenzierst du in der Hinsicht?

Das Schlimmste im Kino kann ich nicht im Genre oder in der Machart von Filmen verorten. Fast alles hat seine Daseinsberechtigung. Und wenn Disney, Til Schweiger und Superhelden dazu beitragen, dass Kinos offen bleiben, kann ich mit deren Existenz sehr gut leben. Grässlich wäre nur, wenn alles andere Richtung Streaming abwandern würde oder gänzlich verschwände. Ich blicke aber optimistisch in die Zukunft.

Wie siehst du dich und Bahnhofskino in zehn Jahren?

Aktuell moderiere und produziere ich neben dem Bahnhofskino noch ein Spinoff mit wechselnden Gästinnen und Gästen (BEEpodcast) sowie einen filmographischen Podcast namens „Spielfilmen“ und ein 14-tägiges Format mit Filmtipps namens „Das ABC des Films“. Ich fühle mich also ganz gut ausgelastet. In jedem Fall wünsche ich mir – und meinem Bahnhofskino Co-Host Daniel geht es hoffentlich ähnlich – dass wir in zehn Jahren immer noch auf Sendung sind. Dass unsere einst sehr spezielle Nische nicht mehr so nischig ist wie anno 2012 und rund tausend Filmrezensionen später natürlich auch immer öfter der Wunsch besteht, mal aus dem gewohnten Format auszubrechen, lässt mich orakeln, dass das Bahnhofskino im Jahr 2031 vermutlich das dritte oder vierte inhaltliche Reboot hinter sich haben wird. Außerdem bin ich momentan heiß darauf, mich mit politischen Themen innerhalb und außerhalb der Medienlandschaft auseinanderzusetzen. Da hierfür ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit notwendig ist und ich von meiner publizistischen Arbeit bislang leider nicht leben kann, muss dies aber noch ein paar Tage warten.

Wenn man auf deine Letterbox-Statistiken schaut, gab es in 2021 eine eher niedrige Durchschnittsbewertung. Reicht das aus, um „am Ball zu bleiben“? Anders gefragt: wie wird sich die Beziehung zum Kino für deine Person ändern?

Ich glaube, der Durchschnittswert hat sich seitdem ein bisschen nach oben korrigiert. Vermutlich war das zwischenzeitliche Letterboxd-Elend darauf zurückzuführen, dass ich Pandemie-bedingt im Sommer 2021 nur zwei, drei Mal im Kino war und im Schutz meiner vier Wände Filme streamte, von denen ich mich unter anderen Umständen fernhalten würde. Als Familienvater mit mehreren Jobs war es aber auch bereits vor Corona-Pandemie keine Option für mich, jede Woche in mehreren Pressevorführungen zu sitzen und regelmäßig Festivals zu besuchen. Angesichts der Existenz zehntausender Filmklassiker, auf deren Entdeckung ich mich noch freuen kann, besteht dafür auch keine Notwendigkeit. Meine Leidenschaft für Kinoarchäologie übersteigt ohnehin meine Lust, mich mit jedem Filmneustart auseinandersetzen und mit unzähligen anderen Filmseiten, Blogs, Podcasts und YouTube Channels um eine Minute Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Meine selbst gewählte Nische mag nicht sehr reichweitenstark oder profitabel sein, aber es ist vergleichsweise entspannt darin. Und das darf gerne so bleiben.

Vielen Dank für deine Zeit und das tolle Gespräch!



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