Eigentlich war der Zeitpunkt günstig, um El Fulgor in die Kinos zu bringen. Ein Dokumentarfilm über die Vorbereitung zum argentinischen Karneval, während gleich in Deutschland der hiesige Karneval – alternativ als Fastnacht oder Fasching bekannt – läuft, das ist gutes Timing. Theoretisch. Praktisch ist die Karnevalsstimmung hierzulande aufgrund weltgeschichtlicher Vorgänge eher mager ausgeprägt. Hinzu kommt, dass der Film nicht das ist, was die offizielle Beschreibung vermuten lässt. Die Vorbereitung findet zwar statt, jedoch nicht in der Form, die man erwarten würde. Vor allem hat Martín Farina, der hier unter anderem Regie führte, die Kamera bediente und die Musik mitkomponierte, eine andere Idee, was sich aus dem Stoff machen lässt.
Tatsächlich darf man von El Fulgor nicht erwarten, dass hier viele Hintergrundinformationen mit dem Publikum geteilt werden. Es gibt keine Interviews, weder mit Experten noch mit Leuten, die am Karneval teilnehmen. Genauer gibt es praktisch überhaupt keine Sprache, nicht einmal als Voiceover. Erst zum Schluss hören wir tatsächlich jemanden sprechen. Ansonsten könnte das hier ein Relikt aus der Stummfilmzeit sein: Die meiste Zeit überdeckt eine aufbrausende Musik das Geschehen, die selten zu dem passt, was gerade auf der Leinwand geschieht. Die Geräusche der realen Welt verschwinden dabei im Hintergrund. Bei einem Dokumentarfilm ist das ungewöhnlich, zumindest auffällig. Wo es den meisten Filmschaffenden in diesem Bereich darum geht, die Welt festzuhalten und dem Publikum näherzubringen, da ist Farina mehr an der Erzeugung von Kunst interessiert.
Faszinierende Grenzüberschreitungen
Dies ist ihm dafür gelungen. Der nur etwas mehr als eine Stunde lange Film bietet eine Vielzahl fesselnder Aufnahmen, die je nach Situation in Farbe oder schwarzweiß sein können. Durch die Hinzunahme der besagten Musik hat das Geschehen immer etwas Unwirkliches, teils Traumartiges. Farina nimmt uns mit in eine Welt, die fest in der Tradition verwurzelt ist und sich doch einer Kategorisierung entzieht. So wird El Fulgor im weiteren Verlauf auch feste Geschlechterbilder in Frage stellen, wenn im Wirbel des Karnevals aufwendige und auffällige Kostüme mit zahlreichen Verzierungen getragen wird. Überhaupt ist der Film von einer starken Körperlichkeit geprägt, wenn auffallend oft nackte Männer durchs Bild laufen.
Aber das ist eben nur ein Aspekt des sehr sinnlichen Films, der irgendwo zwischen reiner Dokumentation und Essay angelegt ist. So entrückt er an der einen Stelle ist, so direkt dran ist er an anderen, wenn es um die Haltung und Schlachtung von Tieren geht. Für ihn ist das kein Widerspruch, wenn das eine in das andere übergeht. Grenzen werden hier nicht nur überschritten. Farina verwischt sie so stark, dass man schon gar nicht mehr sagen kann, auf welcher Seite der Grenze wir uns befinden – oder ob es überhaupt noch ein klar zu definierender Ort ist. Für ein Publikum, das Dokumentarfilme in erster Linie zur Wissensvermehrung anschaut, ist das weniger geeignet. Dafür ist El Fulgor ein faszinierendes Seherlebnis, teils betörend, und irgendwie fremd. Etwas, das lange nachwirkt, selbst wenn man nicht immer genau sagen kann, was dieses „etwas“ gerade war.
OT: „El Fulgor“
Land: Argentinien
Jahr: 2021
Regie: Martín Farina
Drehbuch: Martín Farina
Musik: Jorge Luis Barilari, Martín Farina
Kamera: Martín Farina
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