Mit seiner Familie kann Pierre Lacaze (Manuel Blanc) nicht viel anfangen. Und auch seine Ausbildung zum Krankenpfleger bedeutet ihm nicht viel. Stattdessen träumt der junge Mann davon, als Schauspieler ganz groß rauszukommen, und zieht deshalb nach Paris. Geld hat er keins, auch keine Bekannten, die ihm in der Großstadt weiterhelfen können. Da ist lediglich die deutlich ältere Krankenschwester Evelyne (Hélène Vincent), die er den Sommer zuvor flüchtig kennengelernt hat und die ihm anfangs unter die Arme greift. Die anfängliche Euphorie verblasst mit der Zeit jedoch, als Pierre feststellt, dass das alles nicht so einfach ist wie gedacht und er einen Rückschlag nach dem anderen hinnehmen muss. Halt findet er lediglich bei der Prostituierten Ingrid (Emmanuelle Béart) …
Aus Hoffnung wird Enttäuschung
Eigentlich hätte man bei dem Titel Ich küsse nicht eine dieser albernen Liebeskomödien erwarten können, bei denen ein verklemmter Mensch mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat und am Ende dann doch alles zulässt. Und zumindest anfangs pflegt man bei der französisch-italienischen Coproduktion auch einen recht heiteren Ton, der einen Ausflug ins reine Unterhaltungskino zulassen würde. Als Pierre in die Hauptstadt kommt, ist das der Anfang eines neuen Lebens. Eine Welt, die voller Möglichkeiten steckt, die es nur zu finden gilt. Manuel Blanc spielt diesen jungen Mann dann auch mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Naivität, die durchaus komische Züge hat. Und rührende: Er hat etwas von einem Welpen, der eine neue Umgebung erkundet.
Doch dieser Ersteindruck wird sich mit der Zeit wandeln. Die hoffnungsvolle Stimmung macht zunehmend Ernüchterung Platz. Das ist nicht ganz überraschend bei diesem Szenario. Bei kaum einem anderen Beruf klafft eine vergleichbare Lücke zwischen Vorstellung und Realität wie bei dem der Schauspielerei. Von den vielen Leuten, die davon träumen, in diesem Feld Fuß zu fassen, schafft es nur ein kleiner Teil am Ende. Gerade Filme, die in der Traumfabrik Hollywood spielen, erzählen oft von menschenverachtenden Zuständen. Da werden junge Träumende verheizt, gegeneinander ausgespielt und am Ende wieder ausgespuckt. Ganz so weit geht es bei Ich küsse nicht nicht. Es geht hier auch gar nicht so sehr um das Filmgeschäft als solches. So weit kommt es nicht einmal.
Das Leben als Notlösung
Stattdessen erzählt Regisseur und Co-Autor André Téchiné (Mit siebzehn) ganz allgemein davon, was es heißt, vom Leben enttäuscht zu werden. Die Schauspielerei steht hier nur stellvertretend für all die Träume und Vorstellungen, die man haben kann, die sich am Ende aber nicht bewahrheiten. Wobei Ich küsse nicht natürlich schon eine besonders heftige Version einer solchen Enttäuschung darstellt. Wo andere vielleicht nach den ersten Erfahrungen einfach etwas anderes suchen, das ihnen gefällt, da gibt es bei Pierre keinen wirklichen Plan B. Es gibt nur eine Notlösung, die aus einer Verzweiflung heraus verfolgt wird. Und selbst auf diese will sich der Protagonist nicht wirklich einlassen, versucht das immer als etwas Temporäres anzusehen. Als etwas, das auch nach seinen Regeln zu folgen hat – daher der Titel.
Die Geschichte einer Enttäuschung ist damit auch die eines Kontrollverlustes. Bis zum Schluss wird Pierre versuchen, sein Leben irgendwie selbst zu lenken, muss dabei aber mehr und mehr Kompromisse eingehen. Besonders hart ist in dem Zusammenhang natürlich eine späte Schlüsselszene, in der er in mehrfacher Hinsicht am Boden liegt. Téchiné lässt es dabei jedoch offen, inwiefern der Protagonist auch Urheber des Unglücks ist. So gibt es zwar mehrfach Hinweise dafür, dass er gar nicht das mitbringt, was es für einen Schauspieler gebraucht hätte. Aber das größere Problem in Ich küsse nicht scheint dann doch zu sein, dass es an einer inneren Auseinandersetzung fehlt, er vieles abblockt – auch über das Küssen hinaus.
Gut gespielt und tragisch
Das Ergebnis ist ein Drama, dessen Tragik in dem Zerbrechen der Träume sowie der Unfähigkeit besteht, auf die Situation zu reagieren. Das ist gut gespielt von Blanc, der hierfür einen César als bester Nachwuchsdarsteller erhielt. Ihm gelingt der Wandel vom Welpen mit den weit aufgerissenen Augen zum zerbrochenen Zyniker. Auch der Rest des Ensembles überzeugt in den jeweiligen Verkörperungen von Menschen, die irgendwie verloren gegangen sind. Ein paar der im Film angesprochenen Punkte hätten sicherlich noch weiter vertieft werden können, gerade der Übergang von der Schauspielerei zur Prostitution ist natürlich von einer interessanten Symbolkraft. Aber auch so ist Ich küsse nicht ein sehenswerter Film, dessen Szenario zwar speziell ist, aber doch so zeitlos und universell, dass er auch losgelöst vom Kontext funktioniert.
OT: „J’embrasse pas“
Land: Frankreich, Italien
Jahr: 1991
Regie: André Téchiné
Drehbuch: André Téchiné, Jacques Nolot, Michel Grisolia
Musik: Philippe Sarde
Kamera: Thierry Arbogast
Besetzung: Manuel Blanc, Emmanuelle Béart, Hélène Vincent, Philippe Noiret, Roschdy Zem, Yvan Desny
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
César | 1992 | Beste Regie | André Téchiné | Nominierung |
Beste Nebendarstellerin | Hélène Vincent | Nominierung | ||
Bester Nachwuchsdarsteller | Manuel Blanc | Sieg |
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)