In einer Zeitungsanzeige werden Wiener Männer gesucht. Zwischen 16 und 99 Jahren dürfen sie sein. Wer sich angesprochen fühlt, soll zu einem Casting kommen. Bevorzugt Laien sind dazu aufgerufen, Schauspieler werden allerdings nicht ausgeschlossen. Sie sollen vorsprechen für einen Film auf Basis des pornografischen Romans „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“. Rund hundert Männer kommen, überwiegend Ältere ab etwa 60, aber auch einige junge um die 20. Um die Männerfantasien des anonym veröffentlichten Buchs soll es gehen – und wie heutige Männer darauf reagieren. Die Reaktionen auf das provozierende Unterfangen sind so unterschiedlich wie die Teilnehmer. Sie reichen von Empörung über Ratlosigkeit bis zu freimütigen Bekenntnissen. Regisseurin Ruth Beckermann fand die Castings so interessant, dass sie daraus einen Dokumentarfilm machte.
Besetzungscouch einmal anders
Eine leere, kalte, abbruchreif wirkende Halle. Putz bröckelt von den Wänden. Die Möblierung ist minimalistisch. Zwei Stühle, ein Flügel und als Prunkstück das breite, rosarote Sofa, das auch das Filmplakat ziert. Das gute Stück könnte am Anfang des 20. Jahrhunderts auch in einem der Wiener Salons des „Fin de Siècle“ gestanden haben, der Zeit von Endzeitstimmung, aber auch von Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz. Die Couch provoziert Assoziationen. Da es um Sex geht, kommt das Unbewusste ins Spiel. Sigmund Freud hatte 1900 seine „Traumdeutung“ veröffentlicht, fünf Jahre später folgten die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in denen der Vater der Psychoanalyse erstmals seine Annahmen über die kindliche Sexualität vorlegte. Und natürlich spielt in dem Setting die schon vor „Me too“ berüchtigte Besetzungscouch eine Rolle. Dieses Mal allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Männer wollen einer Frau gefallen, die sie schlüpfrige Texte lesen lässt und intime Fragen stellt.
Im „Fin de Siècle“ lebte und schrieb der bis heute unbekannte Verfasser des Mutzenbacher-Romans (erschienen 1906), in dem eine Dirne sich an sexuelle Abenteuer erinnert, und zwar schon als Kind und junges Mädchen, in unverblümter, teilweise vulgärer Sprache. Das lange verbotene Buch wurde in den mehr als hundert Jahren seiner Rezeption als Aufklärungsunterricht in prüden Zeiten, als reine Männerfantasie, als literarisch anspruchsvoller Text, aber auch als jugendgefährdende Schrift interpretiert. Es provoziert auch heute noch.
Die Regisseurin weiß um die ambivalenten Gefühle, die die Lektüre auslösen kann. Deshalb fragt sie die allein, zu zweit oder manchmal zu viert hereingebetenen Männer nicht direkt nach ihrer Meinung. Sie lässt sie erstmal lesen: kurze Ausschnitte auf ein oder zwei Din-A-4-Seiten. Erst danach schaltet sich die Filmemacherin ein, die aus dem Off zu hören ist, aber die ganze Zeit unsichtbar bleibt. Sie möchte wissen, was der Text in den Männern auslöst, ob sie vielleicht ähnliche Erfahrungen oder Fantasien haben. Manche Antworten wirken authentisch, andere ausweichend. Manchmal scheinen die Interviewten mit ihrer Männlichkeit zu prahlen, manchmal wirkt die Situation eher peinlich. Aber weil alle eine Rolle in dem angekündigten Film wollen, lassen sich alle auf das Spiel ein. Proteste oder Totalverweigerungen bleiben aus – oder haben es jedenfalls nicht in den Film geschafft.
Zu den Stärken des Films zählt die Öffnung gegenüber dem Thema. Männer, daran besteht wenig Zweifel, reden normalerweise nicht gerne über ihre Sexualität. Mit ihrer offenbar vorurteilslosen und dem Roman gegenüber aufgeschlossenen Haltung lockt Ruth Beckermann die Befragten aus der Reserve. Denn sie nutzt das Casting, das dann letztlich zum eigentlichen Film wurde, nicht als Falle, sondern möchte nach eigenem Bekenntnis Ambivalenzen zulassen und das gängige Schweigen überwinden. Zwar sei das Thema heute in den Medien omnipräsent, schreibt sie in ihrem Regiekommentar. Aber zugleich traue sich kaum einer, ehrlich von seinen eigenen Erlebnissen, Problemen oder Glücksgefühlen zu sprechen.
Humoristische Zwischenspiele
Die Offenheit des Films, der mit kleinen Improvisationen und einem Sprechchor aller hundert Männer humorvoll aufgelockert wird, hat aber eine Kehrseite. Ein roter Faden, eine Dramaturgie oder eine tiefer liegende Idee sind nicht erkennbar. Vieles erscheint zufällig und willkürlich. Einfühlsame Ansätze stehen neben Ausflüchten, Angeberei oder theoretischen Überlegungen. Anders als bei Ruth Beckermanns Die Geträumten (2016) oder Waldheims Walzer (2018) runden sich die Teile nicht zu einem Ganzen, sondern bleiben unvermittelt nebeneinander stehen. Das ist zumindest aus männlicher Sicht unbefriedigend und führt zu dem Eindruck, dass der Film vor allem für Frauen gemacht wurde. Für sie mag das Durchbrechen des Schweigens in jedem Fall interessant sein, egal ob sich daraus eine Art Geschichte ergibt oder nicht.
Anders sah das die aus zwei Männern und einer Frau bestehende Jury der Berlinale-Sektion Encounters. Sie zeichnete Mutzenbacher mit dem Preis für den besten Film unter den 15 Beiträgen der Reihe aus. Begründung: Die Dokumentation biete eine reiche und komplexe Reflexion über Genderthemen und Sexualpolitik, die komplizierte Fragen von äußerster aktueller Relevanz stelle.
OT: „Mutzenbacher“
Land: Österreich
Jahr: 2022
Regie: Ruth Beckermann
Drehbuch: Ruth Beckermann, Claus Philipp
Musik: Valie Export, Ingrid/monsti Wiener
Kamera: Johannes Hammel
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