Die aus dem Iran stammende, in Paris lebende Filmemacherin Mitra Farahani hat ein Faible für Künstlerinnen und Künstler. Ihre beiden letzten Filme porträtierten die 2009 verstorbene Malerin Behjat Sadr und den iranischen Maler, Bildhauer und Übersetzer Bahman Mohasses, der von 1932 bis 2010 lebte und arbeitete. Zusammen mit ihrer aktuellen Dokumentation runden sich die Künstlerporträts zu einer Trilogie. Dieses Mal geht es um ein Doppelbildnis von noch lebenden Kreativen, dem iranischen Filmemacher und Schriftsteller Ebrahim Golestan und der schweizerisch-französischen Kinolegende Jean-Luc Godard. Eigentlich wolle Mitra Farahani die beiden zu einem persönlichen Treffen überreden. Ihre Idee: In den 1960er Jahren hätte es nahegelegen, dass sich die beiden begegnen, aufgrund ähnlicher Gedanken und vor allem der Leidenschaft fürs Kino. Aber sie verfehlten sich und jetzt, im hohen Alter, sei die Zeit, das nachzuholen. Doch davon hält Godard nichts. Er schlägt einen Austausch per E-Mail vor, jeden Freitag, mehr als ein halbes Jahr lang. Nicht nur Texte werden dabei als Material für diesen Dokumentarfilm versendet, sondern auch Bilder und kleine Videoausschnitte.
Lebenselixier des Alters
Die Idee einer Art filmischen Briefromans liegt auf den ersten Blick nahe, ist doch der in Europa weniger bekannte, aber im Iran bedeutende Ebrahim Golestan ein leidenschaftlicher Briefeschreiber. Jeden Morgen schlurft der fast Hundertjährige noch zu seinem Schreibtisch im imposanten Herrenhaus im englischen Sussex, um das zu tun, was er fast sein ganzes Leben lang getan hat: Texte verfassen. Fast empört reagiert er auf die Feststellung, dass er seit Jahren nichts mehr veröffentlicht habe. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Man müsse doch nicht schreiben, um die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Die Tätigkeit ist für Golestan ein Lebenselixier, so wie für andere die Pflege des Gartens oder das Sammeln von Briefmarken. Sie hat etwas mit der Logik von Geschichten zu tun, mit Anfang, Konflikt und Lösung. Kurz: mit Kontinuität.
Wer je einen Film von Godard gesehen hat, weiß, dass der mittlerweile 91-Jährige vom traditionellen Erzählen rein gar nichts hält. Genauer gesagt: Dass er sein ganzes langes Schaffen darauf verwendete, das Kino aus der Geiselhaft des Narrativen zu befreien und den Bildern ihr Eigenleben zurückzugeben. Godards Filme sind assoziativ, sprunghaft, oft verrätselt – eine Collage aus Bildern, Handlungsfetzen und bedeutsam raunenden Sätzen aus dem Off. Selbst sein vielleicht konventionellster, in jedem Fall aber berühmtester Film, das Debüt Außer Atem (1960), feiert das Sprunghafte und Episodische. Es kann daher kaum verwundern, wenn Godard in Mitra Farahanis Doppelporträt den für ihn typischen Satz zu dem bevorstehenden Mail-Wechsel sagt: „Wir korrespondieren. Und möglicherweise korrespondieren wir nicht.“
Das paradoxe Zitat legt sich wie ein Programm über den ganzen Film. Die beiden alten Herren treffen sich virtuell an jedem Freitag, aber sie sind wie zwei Robinsons. Jeder lebt auf seiner eigenen Insel, in seinem eigenen Kosmos, auf seiner eigenen Umlaufbahn. Sie sprechen verschiedene Sprachen, der eine die Sprache eines avantgardistischen Kinos, der andere die Sprache der Wörter. Manchmal verzweifelt Golestan, wenn ihm Godard auf einen mehrseitigen Text mit einem einzigen, schwer zu deutenden Foto antwortet. Und der Zuschauer, der gekommen ist, um etwas zu verstehen, verzweifelt mit ihm.
Im Grund ein Godard-Film
„Godard nahm das Steuer in die Hand“. So beschreibt die Regisseurin die Erfahrungen während der Entstehungsphase. Und das heißt auch: Im Grunde ist es ein Godard-Film geworden. Dem kommt man nicht bei, wenn man ihn mit herkömmlicher Sprachlogik begreifen möchte. Es bleibt nur, sich dem Fluss der Bilder zu überlassen. Dann sieht man: zwei alternde Künstler, die auf rührende Weise an dem festhalten, was ihr Leben ausmacht. Die Tag für Tag in ihre je eigene Welt der Gedanken, Träume und Fantasien entschweben, mag der Alltag auch beschwerlicher geworden sein. Man sieht Godard, wie er sich in seinem schmalen Haus am Genfer See die schmale Stiege hinaufkämpft, eine Zigarre im Mund und einen Stapel Hemden in der Hand, die er später fein säuberlich sortiert. Und man sieht den gebeugten Golestan mühsam die schweren Vorhänge in seinem weitläufigen, schlossartigen Zuhause aufziehen.
Das Betrachten alternder Künstler mag für sich stehen, vor allem wenn es sich um Ikonen handelt, die von ihren Jüngern geradezu angebetet werden. Aber Mitra Farahani, die Godard schon länger kennt und seine letzte Arbeit Bildbuch produziert hat, schlägt ihrem Idol auch ein Schnippchen. Ihr Film fügt das zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört: Er zeigt eine tatsächliche Begegnung, filmisch vermittelt über Überblendungen und Leinwände, die zum Beispiel bei Golestan aufgestellt sind und mittels derer der Iraner dem Franzosen ganz nahe kommt, so als befänden sie sich im selben Raum. Ob dieser Kniff ganze 90 Minuten zu tragen vermag, ist eine andere Frage. Mit guten Recht kann man den Film umso langweiliger finden, je länger er dauert. Die Jury der Berlinale-Sektion „Encounters“ sah darin jedoch ein „spielerisches Gefecht zweier Egos”, das eine bewegende Meditation über Sprache, Kommunikation und künstlerisches Schaffen beinhalte. Sie verlieh der Dokumentation den Spezialpreis der Jury.
OT: „À vendredi, Robinson“
Land: Frankreich, Schweiz, Iran, Libanon
Jahr: 2022
Regie: Mitra Farahani
Drehbuch: Mitra Farahani
Musik: Tara Kamangar
Kamera: Fabrice Aragno, Daniel Zafer
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