Der (amerikanische) Traum von einem besseren, menschenwürdigeren Leben ist es, dem der junge Mexikaner Jesús (Juan Jesús Varela) in Was geschah mit Bus 670? folgt. Auf dem Weg zur mexikanisch-US-amerikanischen Grenze verliert sich allerdings seine Spur – einziger Anhaltspunkt ist der Bus, mit dem er nachweislich zuletzt gereist war. Seine Mutter Magdalena (Mercedes Hernández) macht sich auf die Suche nach ihrem vermissten Sohn und wird dabei mit institutioneller Indifferenz konfrontiert, erfährt aber auch Gesten der Menschlichkeit und Solidarität.
Die Vermissten von Mexiko
Ende November 2021 veröffentlichten die Vereinten Nationen – und in der Folge auch Leitmedien wie die New York Times – eine ungeheuerliche Zahl: Fast 100.000 Menschen gelten in Mexiko offiziell als vermisst. Erst vor diesem Hintergrund entfaltet das Spielfilmdebüt der mexikanischen Regisseurin Fernanda Valadez seine volle Wirkung. Nämlich wenn klar wird, dass das, was in Was geschah mit Bus 670? (Originaltitel: Sin señas particulares; übersetzt etwa „Keine besonderen Merkmale“) gezeigt wird, eben kein bedauerlicher Einzelfall ist, sondern ein stellvertretendes Schicksal von Zehntausenden. Aus der persönlichen Situation einer Mutter erwächst so ein hochpolitischer Film.
Schon der Ausgangspunkt der Handlung bzw. die Eröffnungsszene des Films ist nicht unpolitisch zu begreifen: Zwei mexikanische Teenager – Rigo und Jesús – machen sich von ihrem mexikanischen Heimatort aus gemeinsam auf den Weg zur US-amerikanischen Grenze; sie wollen mit dem Bus nach Arizona. Ihr Schicksal bleibt lange Zeit unklar. Nach einem harten Schnitt zeigt die nächste Einstellung die Mütter, die bei der lokalen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben. Die Beamten allerdings machen keinen besonders überraschten Eindruck und zeigen den verzweifelten Frauen lediglich einen dicken Ordner mit den Fotos von Leichen – allesamt nicht identifiziert (laut des erwähnten UN-Reports sind in Mexiko 52.000 Tote unidentifiziert).
Die Suche einer verzweifelten Mutter
Bereits kurz darauf gibt es für eine der Mütter traurige Gewissheit: Rigo wurde tot aufgefunden. Bei der Trauerfeier beschließt Magdalena, nicht untätig zu warten, sondern sich selbst auf die (nicht ungefährliche) Suche nach Jesús zu begeben. Auf die aktive Mithilfe der Behörden – soviel wird schnell klar – wird sich Magdalena dabei nicht verlassen können. Die Polizei würde Jesús am liebsten für tot erklären lassen; auf Basis einer äußerst dünnen Indizienlage. Die verunsicherte Magdalena ist kurz davor, sich darauf einzulassen, bis ihr eine Leidensgenossin auf der Polizeistation (in der emotional vielleicht stärksten Szene des Films) einen eindringlichen Rat gibt: „Wenn sie unterschreiben, akzeptieren Sie, dass aufgehört wird, nach ihm zu suchen. Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich.“ Spätestens jetzt ist Magdalena fest entschlossen: „Ich werde nicht aufhören, bis ich ihn gefunden habe.“
Der einzig greifbare Anhaltspunkt für Magdalenas Recherchen ist der Bus, mit dem Jesús zur Grenze unterwegs war: die berüchtigte Linie 670. Sie sucht den zuständigen Busfahrer, stößt bei der Busgesellschaft aber auf ein Kartell des Schweigens. Es seien keine Unregelmäßigkeiten oder gar Überfälle gemeldet worden. Man kann und vor allem will ihr hier ganz offenbar nicht helfen. Und doch verdichten sich die Hinweise, dass hier etwas passiert sein muss. Die anonymen Warnungen („Gehen Sie nach Hause zurück. Wenn Sie bleiben, passiert Ihnen vielleicht das Gleiche.“) verstärken Magdalenas Entschlossenheit nur. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass hier keine Held:innengeschichte erzählt wird: Magdalena ist keine toughe Einzelkämpferin, sondern eine ganz normale liebende Mutter, die sich in einer Extremsituation so gut wie möglich zu behaupten versucht – und dieser Umstand lässt ihren Weg nur noch beeindruckender erscheinen.
Dokumentarisch und poetisch
Ein zweiter Handlungsstrang – über den hier nicht allzu viel verraten werden soll – begleitet parallel einen junger Mann, der im US-amerikanischen Abschiebegefängnis zur „freiwilligen“ Rückreise nach Mexiko genötigt wird. Nur so viel: Sein Weg und der von Magdalena werden sich später kreuzen und vereinen. Bei aller inhaltlichen Schwere ist die besondere Art der Inszenierung ebenfalls beachtlich: Ruhige, statische Szenen, die den Schmerz und die innere Bewegung der Figuren (zumeist der Frauen) noch verdeutlichen, verleihen dem Film mit unter dokumentarischen Charakter. Sie werden jedoch kontrastiert mit wunderschönen, elegischen tracking shots in der weiten Landschaft Mexikos. Poetische Bilder und die Visualisierung beinahe magischer Visionen bzw. Halluzinationen weisen über das profane irdische Leid hinaus.
OT: „Sin señas particulares“
Land: Mexiko, Spanien
Jahr: 2020
Regie: Fernanda Valadez
Drehbuch: Astrid Rondero, Fernanda Valadez
Musik: Clarice Jensen
Kamera: Claudia Becerril Bulos
Besetzung: Mercedes Hernández, Juan Jesús Varela, David Illescas, Ana Laura Rodríguez, Armando García
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