Laura (Seidi Haarla) ist fest entschlossen: Sie will unbedingt die antiken Höhlenmalereien anschauen, die nahe der Stadt Murmansk im Nordwesten Russlands zu sehen sein sollen. Eigentlich wollte sie dafür mit Irina (Dinara Drukarowa) fahren, ihrer Freundin. Als die jedoch nicht kann, macht sie sich eben allein auf den weiten Weg. Wobei, richtig allein ist sie dann doch nicht. Schließlich ist da noch Ljoha (Yuriy Borisov), mit dem sie sich das Abteil teilen muss. Darauf hätte sie gern verzichten können, ist der russische Bergarbeiter doch ein ungehobelter Klotz, der sich ständig betrinken will. Am liebsten würde sie gleich wieder umkehren, so unangenehm ist dessen Anwesenheit. Doch mit der Zeit kommen sich die beiden näher und beginnen, sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten zu erzählen …
Eine unerwünschte Annäherung
Ein guter Film ist ein guter Film, unabhängig vom zeitlichen Kontext? In der Theorie mag sich das so anhören. Tatsächlich sind die Umstände, in denen ein Film auf sein Publikum trifft, oft genauso wichtig wie der Film an sich. Ein trauriges Beispiel ist Abteil Nr. 6, das gerade zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt in die deutschen Kinos kommt, die man sich vorstellen kann. Ein Drama, das in Russland spielt und von einer finnisch-russischen Annäherung erzählt? Das passt nicht in eine Zeit, in der die Russen gerade ihre Nachbarn überfallen und töten. Und so wundert es nicht, dass die internationale Coproduktion bei einer Reihe von Kinos aus dem Programm genommen werden sollte, noch bevor sie dort überhaupt wirklich starten konnte.
Das ist verständlich und gleichzeitig sehr schade. Schließlich ist Regisseur und Co-Autor Juho Kuosmanen (Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki) damit einer der schönsten Filme geglückt, die man dieses Jahr auf hiesigen Leinwänden sehen darf. Dabei ist das Prinzip weder neu noch originell. Über weite Strecken ist die Adaption des gleichnamigen Romans von Rosa Liksom ein typischer Roadmovie, sieht man einmal davon ab, dass die Straße durch ein Zuggleis ersetzt wurde. Wie so oft geht es darum, dass zwei Leute, die einander fremd sind, notgedrungen einen gemeinsamen Weg hinter sich bringen und sich nach anfänglichen Irritationen näherkommen. Dafür werden oft Familienmitglieder genommen, die nach Jahren der Stille wieder miteinander reden. Bei Abteil Nr. 6 sind es zwei Fremde, die zufällig im selben Zugabteil landen und deren einzige Gemeinsamkeit die ist, an den selben abgelegenen Ort zu wollen.
Zwei Welten in einem Zugabteil
Tatsächlich treffen hier Welten aufeinander. Sie ist eine Finnin aus der bürgerlichen Bildungsschicht, interessiert sich für Architektur, will wegen Höhlenmalereien eine lange Reise unternehmen. Und sie liebt Frauen. Eine zumindest, selbst wenn nicht genau klar ist, was sie in ihr sieht. Er wiederum ist der typische Klischeerusse: ungehobelt, übergriffig, betrunken, macht sich in der erstbesten Gelegenheit an seine Mitreisende ran, die erschrocken das Weite sucht. Solche starken Gegensätze werden gern in Liebeskomödien genutzt, wo sich vermeintlich inkompatible Menschen nach einigen Anlaufschwierigkeiten in die Arme fallen. Abteil Nr. 6 ist keine dieser Liebeskomödien. Das liegt nicht nur daran, dass eine herkömmliche Romanze so nicht möglich ist. Kuosmanen, der eine recht freie Version der Romangeschichte erzählt, hat auch kein Interesse an den üblichen Witzen.
Die Culture-Clash-Momente, die es hier durchaus gibt, laufen ohne den üblichen Humor ab. Sie sind vielmehr oft ein wenig unangenehm. Das gilt aber auch für die Szenen, die Laura und Irina zeigen. Szenen, die für beide ganz offensichtlich nicht dasselbe bedeuten. Dessen muss sich die Protagonistin aber erst bewusst werden. Die Reise von ihr ins ferne Murmansk ist deshalb – wie bei Roadmovies üblich – keine rein physische Reise, an deren Ende ein Ort steht. Vielmehr tritt sie eine innere Reise an und wird dabei, mal allein, mal mit der Hilfe von Ljoha, einiges lernen. Abteil Nr. 6 ist die Geschichte zweier Menschen, die innerhalb eines engen Raumes anfangen, die eigene Komfortzone zu verlassen. Das geschlossene Abteil wird zu einer Bühne, auf der sie sich einander und sich selbst öffnen.
Schön ungeschickt
Das funktioniert natürlich nicht auf Anhieb. Eigentlich sind beide ein wenig ungeschickt beim Umgang miteinander, wissen nicht so recht, was sie mit der Situation anfangen sollen. Manche Annäherung endet mit einer ruppigen Abweisung. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr schöne Momente, in denen die zwei entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch einen Zugang zueinander finden. Zwei Menschen, die jeweils auf ihre Weise auf der Suche sind und auf einmal etwas Wertvolles entdecken. Dabei verzichtet Abteil Nr. 6 auf den aufmunternden Kitsch, den man in solchen Geschichten immer wieder hat. Stattdessen ist das hier ein leise und zurückhaltend erzählter Film, der vieles gar nicht erst in Worte packt und ein Plädoyer ist, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Sich vielleicht auch die Zeit zu nehmen, auf ein Gegenüber einzulassen, so seltsam und unsympathisch dieses am Anfang auch wirken mag.
OT: „Hytti nro 6“
IT: „Compartment No. 6“
Land: Finnland, Deutschland, Estland, Russland
Jahr: 2021
Regie: Juho Kuosmanen
Drehbuch: Andris Feldmanis, Livia Ulman, Juho Kuosmanen
Vorlage: Rosa Liksom
Kamera: J-P Passi
Besetzung: Seidi Haarla, Yuriy Borisov
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Cannes | 2021 | Goldene Palme | Nominierung | |
César | 2022 | Bester ausländischer Film | Nominierung | |
Europäischer Filmpreis | 2021 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Darstellerin | Seidi Haarla | Nominierung | ||
Bester Darsteller | Yuriy Borisov | Nominierung | ||
Film Independent Spirit Awards | 2022 | Bester internationaler Film | Nominierung | |
Golden Globes | 2022 | Bester fremdsprachiger Film | Nominierung |
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