Eigentlich bereitete sich der Radiomoderator Johnny (Joaquin Phoenix) gerade darauf vor, für seine Reportage Kinder quer durch die USA zu ihrem Leben und ihrem Blick auf die Zukunft zu befragen. Dass er sich selbst um eines kümmern müsste, damit hatte er nicht gerechnet. Genauer ist es sein neunjähriger Neffe Jesse (Woody Norman), der in seine Obhut gegeben wird. Die Beziehung zu seiner Mutter Viv (Gaby Hoffmann), die Schwester von Johnny, ist dabei nicht die beste. Immer wieder sind die zwei zuvor aneinandergeraten, gerade im Hinblick auf den Umgang mit der demenzkranken Mutter. Doch jetzt muss sich Viv erst einmal um ihren psychisch labilen Ehemann Paul (Scoot McNairy) kümmern. Für Johnny bedeutet dies die Gelegenheit, Jesse zum ersten Mal wirklich kennenzulernen.
Letzter Ausweg: Onkel
Und der nächste Film über einen entfremdeten Onkel, der sich in einer Notsituation eines Kindes annehmen muss, damit zunächst etwas fremdelt, schlussendlich in diese neue Aufgabe aber hineinwächst. Beispiele für dieses Szenario hat es in den letzten Jahren ohne Ende gegeben. Manchester by the Sea brachte es damit sogar zu Oscar-Ehren. Insofern wäre es ein Leichtes, Come on, Come on vorab bereits abzuschreiben wegen seiner vermeintlich belanglos-austauschbaren Geschichte. Es wäre aber falsch. Denn auch wenn der Film an vielen Stellen den ausgetretenen Pfaden folgt, bringt er doch genug Eigensinn mit, um sich wohltuend von der zahlreichen Konkurrenz abzuheben. Mehr noch, das Drama gehört schon jetzt zu den großen Kinohöhepunkten von 2022.
Zunächst fällt Come on, Come on etwas aus dem Rahmen, weil diese Zwangsannäherung ausnahmsweise mal nicht die Folge eines Todesfalles ist. Frei von familiären Schicksalsschlägen ist der Film deswegen aber nicht. Da ist das schwierige Verhältnis der beiden Geschwister. Da ist die Geschichte mit der demenzkranken Mutter und allgemein ein Ungleichgewicht in den Eltern-Kindern-Beziehungen. Und jetzt hat Viv auch noch mit den psychotischen Schüben ihres Ehemannes zu kämpfen. Das ist schon ein bisschen viel. In den Händen weniger talentierter Filmschaffender hätte daraus leicht eines dieser manipulativen Melodramen werden können, die ein Mangel an Glaubwürdigkeit mit aufdringlicher Musik und ganz viel Pathos überspielen wollen.
Eine Chance des besseren Kennenlernens
Glücklicherweise ist Mike Mills aber kein untalentierter Filmschaffender. Stattdessen zeigt sich der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor fünf Jahren nach dem ebenfalls wunderbaren Jahrhundertfrauen als einfühlsamer Geschichtenerzähler mit einem Blick für Details. Dick auftragen ist nicht so seins. Er mag es lieber leiser, unspektakulärer. Viele Szenen in Come on, Come on bestehen nur aus Dialogen, von denen viele sich mit Alltäglichem beschäftigen. Wenn Johnny und Jesse später zusammen auf Reise gehen, erfahren sie und das Publikum mit der Zeit mehr übereinander. Sie erfahren aber auch einiges über sich selbst. Johnny ist, im Gegensatz zu seiner Schwester und seinem Neffen, nicht unbedingt jemand, der über sein Inneres redet oder sich damit auseinandersetzen möchte. Die gemeinsame Zeit wird auf diese Weise zu einer Möglichkeit, sich selbst besser kennenzulernen.
Charakterdarsteller Joaquin Phoenix ist für eine solche Rolle natürlich eine sehr gute Wahl. Es gelingt ihm spielerisch leicht, die verschiedenen Nuancen seiner Figur herauszuarbeiten, ohne dies immer groß verbalisieren zu müssen. Come on, Come on ist ein angenehm zurückhaltender Film, der zwar kunstvoll inszeniert ist – man beachte die schönen Schwarzweiß-Aufnahmen seines Kameramanns Robbie Ryan (Marriage Story, Sorry We Missed You). Er ist aber nicht verkünstelt, sondern hält die Balance aus dem Banalen und dem Besonderen. Mag das Spiel mit dem Skurrilen, wenn die beiden Hauptfiguren jeweils eigen sind, ohne sich aber darauf auszuruhen.
Gemeinsamer Austausch
Interessant sind zudem die wiederkehrenden Einschübe, in denen Johnny andere Kinder und Jugendliche zu ihrer jeweiligen Zukunftssicht befragt. Das hat zwar mit der Familiengeschichte nur bedingt zu tun, passt aber doch sehr gut zu der introspektiven Art des Films, in dem alle nach Antworten suchen und sich mit Unsicherheiten auseinandersetzen müssen. Dabei geht es nicht darum, dem Publikum definitive Antworten vorzugeben. Die gibt es in dem Film kaum. Come on, Come on ist mehr eine Einladung dazu, selbst nachzudenken, sich mit anderen auszutauschen und sich den eigenen Sorgen und Wünschen zu stellen. Das geht mit viel Charme einher, mit Momenten, die einem auf die eine oder andere Weise nahe gehen, unterhalten, aber auch traurig sein können. Am Ende mag die Welt nicht zu einem besseren Ort geworden sein. Aber sie erscheint einem zumindest ein bisschen besser und hoffnungsvoller, ohne dass Mills auf billige Tricks und künstliche Happy Ends zurückgreifen musste.
OT: „Come on, Come on“
Land: USA
Jahr: 2021
Regie: Mike Mills
Drehbuch: Mike Mills
Musik: Aaron Dessner, Bryce Dessner
Kamera: Robbie Ryan
Besetzung: Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, Scoot McNairy
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
BAFTA | 2022 | Bester Nebendarsteller | Woody Norman | Nominierung |
Film Independent Spirit Awards | 2022 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Regie | Mike Mills | Nominierung | ||
Bestes Drehbuch | Mike Mills | Nominierung |
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