Anne (Anamaria Vartolomei) hat es trotz ihrer Herkunft aus einfachen Verhältnissen an die Universität geschafft, wo sie Literatur studiert. Sie ist fleißig und begabt, womit sie immer wieder bei Professor Bornec (Pio Marmaï) positiv auffällt. Ihr scheinen alle Wege offen zu stehen. Doch dann stellt sie eines Tages schockiert fest, dass sie schwanger ist. Der werdende Vater weiß nichts hiervon, lebt auch in einem anderen Teil des Landes. Für Anne steht daher fest, dass sie sich allein um das Problem kümmern muss. Das Kind zu behalten, kommt für sie nicht in Frage, denn das würde bedeuten, all ihre Pläne aufgeben zu müssen. Sie muss es loswerden, irgendwie. Aber wie soll sie das anstellen? Schließlich ist eine Abtreibung Anfang der 1960er in Frankreich illegal. Und auch ihre besten Freundinnen wollen mit dem Thema nichts zu tun haben …
Streitthema Abtreibung
„Mein Körper, meine Entscheidung“ lautet einer der Slogans, der die Debatte um Abtreibungen begleitet. Doch die Realität sieht oft anders aus. Während in Deutschland über eine Aufhebung des Werbeverbots diskutiert wird, ist der Schwangerschaftsabbruch prinzipiell immer noch eine Straftat. In anderen Ländern sieht es noch deutlich schlimmer aus, das in Texas verabschiedete sehr restriktive Gesetz schaffte es weltweit in die Nachrichten. Kein Wunder also, dass immer wieder Filme produziert werden, die dieses nach wie vor sensible Thema aufgreifen. Niemals selten manchmal immer und Unpregnant erzählten beispielsweise jeweils, wie eine Teenagerin quer durch die USA reist, um einen solchen Abbruch durchführen zu lassen, weil ihr daheim die Möglichkeit dazu fehlt.
Auch Das Ereignis erzählt davon, wie eine junge Frau eine Abtreibung anstrebt, dabei aber schnell an Grenzen stößt – eigene wie juristische. Denn während heute, allen Hindernissen zum Trotz, eine solche Abtreibung nichts Ungewöhnliches ist, sah das Anfang der 1960er noch anders aus. In ihrem gleichnamigen autobiografischen Roman erinnerte sich Annie Ernaux (Passion Simple) an ihre eigenen Erfahrungen. Erinnert sich an die Schwierigkeiten. Daran, was die Abtreibung ihr abverlangte, persönlich wie finanziell. Erinnert sich vor allem auch daran, wie sehr das Thema seinerzeit tabuisiert wurde. So konnte sie mit praktisch niemandem darüber reden, auch aus der Befürchtung heraus, sich strafbar zu machen. Sowohl für Schwangere wie auch behandelnde Ärzte konnte ein solcher Abbruch mit Gefängnis enden.
Zielstrebig und ungeschönt
Regisseurin und Co-Autorin Audrey Diwan (Bac Nord – Bollwerk gegen das Verbrechen) setzte diese Geschichte in enger Absprache mit der Schriftstellerin als Film um. Viel ändern wollte sie dabei nicht. Musste sie aber auch nicht: Die Geschichte spricht für sich selbst, muss nicht groß abgewandelt oder gar aufgebauscht werden. Tatsächlich ist Das Ereignis ein Drama, das recht nüchtern erzählt wird. An vielen Stellen ist die zweite Regiearbeit der Französin dokumentarisch gehalten und von einer ungeschönten Sachlichkeit geprägt. Da gibt es keine großen Herzschmerzmomente. Anne geht ihre gewollte Abtreibung mit einer unbeirrten und meist unaufgeregten Zielstrebigkeit an, so als handele es sich nur um eine weitere Aufgabe an der Universität, die sie abhaken muss. Sie, die sich als erste aus der Arbeiterfamilie an die Hochschule gekämpft hat, ist kein wimmerndes Opfer mit weit aufgerissenen Augen, sondern eine Macherin. Will es zumindest sein.
Das bedeutet aber nicht, dass der Film keine Wirkung hinterlassen würde. Die Direktheit, welche Diwan beweist, bezieht sich nicht allein auf den Alltag und die verschiedenen Adresse, die Anne im Laufe ihrer Odyssee abklappert. Es bedeutet auch, in den hässlichen und schmerzhaften Momenten mit der Kamera draufzuhalten, wenn die Protagonistin entweder allein oder mit der Hilfe anderer einen vorzeitigen Abbruch erzwingen will. Das Ereignis mutet dem Publikum da schon einiges zu. Entsprechend gespalten waren die Reaktionen auf den Film. Während das Drama bei der Premiere während der Filmfestspiele von Venedig 2021, wo es den begehrten Goldenen Löwen erkämpfte, begeisterte Kritiken erhielt, hatten andere Probleme mit den schockierenden Szenen.
Historisch und erschreckend aktuell
Sehenswert ist der Film so oder so. Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei (Nur Kinder) liefert eine starke Leistung ab als jemand, der gegen ein frauenfeindliches System ankämpfen muss. Und das mehr oder weniger allein: Selbst ihr engstes Umfeld tut sich mit dem Thema sehr schwer, da die Tabuisierung eine Auseinandersetzung schon im Keim erstickt. Damit zusammen hängt auch ein Verpönen weiblicher Sexualität. Frauen, die sich amüsieren wollen? Das geht nicht, zumindest aus Sicht der Männer. Auch wenn die Geschichte vor bald 60 Jahren spielt und sich vieles seither getan hat, ist sie doch auf ihre Weise zeitlos. So manches, womit sich Anne und ihre Freundinnen auseinandersetzen müssen, sind Jahrzehnte später erschreckend gleich geblieben. Stoff für Diskussionen bietet Das Ereignis daher mehr als genug, sofern man nach den harten Szenen überhaupt noch in der Stimmung ist zu reden.
OT: „L’évènement“
IT: „Happening“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Audrey Diwan
Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano
Vorlage: Annie Ernaux
Musik: Evgueni Galperine, Sacha Galperine
Kamera: Laurent Tangy
Besetzung: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro, Louise Chevillotte, Pio Marmaï
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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BAFTA | 2022 | Beste Regie | Audrey Diwan | Nominierung |
César | 2022 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Regie | Audrey Diwan | Nominierung | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Audrey Diwan, Marcia Romano | Nominierung | ||
Beste Nachwuchsdarstellerin | Anamaria Vartolomei | Sieg | ||
Europäischer Filmpreis | 2021 | European University Film Award | Nominierung | |
Prix Lumières | 2022 | Bester Film | Sieg | |
Beste Regie | Audrey Diwan | Nominierung | ||
Beste Hauptdarstellerin | Anamaria Vartolomei | Sieg | ||
Beste Kamera | Laurent Tangy | Nominierung | ||
Venedig | 2021 | Goldener Löwe | Sieg |
Venedig 2021
Filmfest Hamburg 2021
Around the World in 14 Films 2021
Sundance 2022
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