Petra Seeger hat in ihrer filmischen Arbeit oft andere porträtiert. Nun aber, in ihrem Spielfilm Vatersland, erzählt die Kölnerin von sich selbst. Sie zeichnet die schwierige Beziehung zu ihrem Vater nach und entwirft ein faszinierendes Sittengemälde der 1950er und 1960er Jahre. In den autobiografischen Spielfilm fließen Familienfotos und 16-Millimeter-Aufnahmen aus dem Privatarchiv der Regisseurin ein. Sie nennt ihre Protagonistin Marie, verkörpert im Erwachsenenalter von Margarita Broich sowie als Kind und Jugendliche von drei weiteren Darstellerinnen. Marie ist wie die Regisseurin Filmemacherin und steckt in einer Schaffenskrise. Eines Tages erhält sie eine Kiste mit Fotos und Filmen ihres Vaters, der als Werksfotograf und auch in der Freizeit leidenschaftlich gerne hinter der Kamera stand. So beginnt sie, sich mit ihrer patriarchalisch geprägten Kindheit und Jugend auseinanderzusetzen, quasi mit einem Terrain, das nach dem frühen Tod der Mutter das Land ihres Vaters war und in dem sie ihre eigene Stimme erst finden musste. Aus Anlass des Kinostarts am 10. März 2022 sprachen wir mit Petra Seeger über Schwierigkeiten der Finanzierung, die veränderte Lage in den Fördergremien und das Schweigen der Männer.
Sie schreiben in Ihrem Regie-Kommentar, dass der Weg zur Realisierung von Vatersland sich rund 17 Jahre hinzog. Was waren die wichtigsten Hindernisse?
Die Hindernisse sind vielfältig. Das Schreiben an sich ging recht schnell. Für meinen ersten Entwurf, ein Treatment von etwa 20 Seiten, bekam ich eine Drehbuch-Förderung von der Filmstiftung NRW. Als ich das Buch fertig hatte, musste ich erstmal etwas Abstand gewinnen, weil ich beim Freilegen der Erinnerungen tief in die Vergangenheit eintauchte, was nicht einfach für mich war. Dann kam relativ schnell der Film über den Hirnforscher Eric Kandel dazwischen. Wir haben uns durch einen Zufall kennengelernt und bald gemerkt, dass wir auf einer Wellenlänge liegen. Er hat wohl gespürt, dass ich gerade diese Erinnerungsarbeit hinter mir hatte. Und ich spürte, dass bei ihm ebenfalls eine Reise in die Vergangenheit anstand. Die Arbeit an diesem Film dauerte vier Jahre, währenddessen hatte ich den Film über mich selbst praktisch vergessen.
Was gab den Anstoß, das alte Projekt wieder aufzunehmen?
Mein Mann sagte zu mir, du hast doch noch das alte Drehbuch in der Schublade. Eigentlich wollte ich da nicht mehr ran. Eine Assistentin unserer Produktionsfirma schlug vor, das Projekt bei der Produktionsvorbereitungsförderung NRW einzureichen. Ich musste das Buch natürlich selbst erst noch einmal lesen und war positiv überrascht. Ab da bin ich dann drangeblieben, mit Ausnahme von zwei Jahren für einen weiteren Film dazwischen. Doch es war sehr schwer, Vatersland zu finanzieren.
Hatte das auch mit der weiblichen Perspektive des Drehbuchs zu tun?
Es ist meiner Ansicht nach immer noch eine Genderfrage, ob es Frauen „erlaubt“ wird, in einer zutiefst künstlerischen Form von sich zu erzählen. Dazu gibt es eine erhellende Anekdote. Eine Dramaturgin bei einer großen Produktionsfirma, der ich den Stoff angeboten hatte sagte zu mir, für sie wäre das Drehbuch interessant, wenn ich Lady Di wäre. Dann wäre es interessant, mehr über deren Kindheit zu erfahren. Nach einer bedeutsamen Pause schlussfolgerte sie haarscharf: „Aber Frau Seeger, Sie sind nicht Lady Di.“ Das war der Moment, in dem ich verstand, in welchem Desaster man sich als Filmemacherin befindet, wenn man in der bestehenden Kulturlandschaft als Frau autobiografisch arbeiten möchte.
Waren in den 1970er und 1980er Jahren die Bedingungen dafür günstiger?
Ich komme ja eher aus einer Tradition des Autorenkinos und konnte überhaupt nicht verstehen, dass etwas so diffamiert wird, was ich als hehren Ansatz sehe. Mich hat immer interessiert, wenn Filmemacherinnen und Filmemacher autobiografisch arbeiten, Nanni Moretti zum Beispiel, oder Edgar Reitz in seiner „Heimat“-Trilogie und viele andere. Es gab damals auch viele Dokumentarfilme, die über die Kindheit ihrer Regisseurinnen und Regisseure reflektieren. Das war für mich immer das Spannendste am Filmemachen überhaupt. Aber inzwischen hatte sich der Wind gedreht, und ich bekam eine Absage nach der anderen.
Wann stand letztlich die Finanzierung?
Sie war das größte Hindernis. Ich hatte viele Jahre den WDR und die Filmstiftung NRW an Bord. Die sind mir zwar treu geblieben, aber die eine Institution sagte, wir geben erst Geld, wenn die andere Geld gibt, und umgekehrt. Bis das endgültige „ja“ kommt ist es der reinste Förderinstitutionen-Hindernislauf. Wir haben es in Bayern versucht, in Österreich, der Schweiz, in Luxemburg, alles vergeblich. Letztlich fanden wir in Belgien einen Partner. In dieser Zeit schrieb ich 16 Drehbuchfassungen. Ich habe mir letztens den Spaß gemacht, die auf der Terrasse nebeneinander zu legen und zu fotografieren. Das sind etwa drei, vier laufende Drehbuchmeter. Aber das sind langwierige und schreckliche Prozesse. In Luxemburg sagten sie zum Beispiel, solch einen autoritären Vater, wie ich ihn beschreibe, gäbe es gar nicht. Ich solle die Figur „weicher“ schreiben. Da sitzen dann ältere Herren und sagen, einen solchen Mann möchten sie nicht in einem Film, den gäbe es in der Realität nicht.
Würden Sie den Film als Ihr wichtigstes Werk bisher beschreiben?
Ganz sicher, das ist mein Lebensfilm. Möglicherweise habe ich Lust, die Geschichte der Figur weiter zu erzählen, in einem Folgefilm. Am letzten Drehtag war keiner dabei, der nicht Vorschläge für eine Fortsetzung gemacht hätte. Wenn man sich einmal auf das eigene Leben eingelassen hat, liegt das nahe, wie etwa bei François Truffaut die Figur des Antoine Doinel von Film zu Film älter wird, oder der Hermann aus der „Heimat“-Trilogie von Edgar Reitz. Zumal es bei mir lustiger würde, wenn die Marie ins Erwachsenenalter kommt.
Warum haben Sie für die Erzählung Ihres eigenen Lebens die fiktive Form gewählt und nicht die dokumentarische?
Das ist eine Frage von Fantasie und Kreativität, auch von Unterhaltsamkeit. Dafür reicht die dokumentarische Ebene nicht aus. Im Spielfilm wird erzählt, was die Figur empfunden hat und wie sie die Welt sieht. Das dokumentarische Material, das ich integriere, zeigt nur, wie der Vater auf Fotos und Filmen die Familie dargestellt hat. Das ist seine Sicht, nicht das, was ich erzählen möchte. Mein zentrales Anliegen ist, eigene Erlebnisse in eine künstlerische Form zu überführen.
Darf man also annehmen, Ihr Vater war wirklich so wie der im Film gezeigte?
Was heißt wirklich? Eine objektive Wahrheit gibt es nicht. Wenn Sie zum Beispiel mit Ihren Geschwistern über Ihre Eltern sprechen, wird jeder ein anderes Bild von Vater oder Mutter haben. Es ist immer eine subjektive Empfindung, wie man andere Menschen erlebt. Mein Bruder Wolfram Seeger zum Beispiel, der viele Dokumentarfilme gemacht hat, würde unsere Familiengeschichte ganz anders verfilmen.
Aus heutiger Sicht sind die 1950er und 1960er auch deshalb so lustig, weil sie inzwischen fremd anmuten. Aber wie reagieren Jüngere darauf?
Auf den Festivals in Biberach und Ludwigshafen, wo der Film schon gelaufen ist, bekam ich begeisterte Reaktionen von der Generation der 30-Jährigen. Einer sagte zu mir, seine Mutter hätte ihm immer von dieser Zeit erzählt, aber er habe sie nie richtig verstanden. Erst durch den Film habe er begriffen, wie es damals gewesen sein muss. Für die Jüngeren hat das etwas Lustiges und Interessantes. Und: Viele junge Frauen können mit der emanzipatorischen und feministischen Sicht auf die Welt sehr viel anfangen. Die empfinden sich sozusagen als Verlängerung dieses Weges, den ich gehe. Das hat mich selber gewundert und natürlich gefreut. Von älteren Menschen, die die Zeit selber erlebt haben, bekomme ich unheimlich viele Briefe und Mails, die von sich selbst berichten, weil sie durch den Film in die eigene Vergangenheit zurückversetzt werden. Es kommen zudem Dokumentarfilmerinnen zu mir, die selber ein ähnliches Material aus ihrer Familie bei sich zu Hause haben und mir sagen, sie bräuchten das jetzt nicht mehr zu verfilmen, weil ich es stellvertretend für alle getan hätte.
Was ist ihr wichtigstes Anliegen?
Mir geht es um das Schweigen der Männer in der Generation meines Vaters. Um die Unfähigkeit zu kommunizieren, um diese patriarchalische, verklemmte, selbst-entwertende und andere entwertende Haltung. Durch dieses Vorbild wurden deren Söhne unheimlich geschädigt, und wir Frauen natürlich auch. Man sieht in dem Film, was passiert, wenn die Frau wegfällt, als Maries Mutter stirbt und das Mädchen erst zehn Jahre alt ist. Die Mutter war eine zwar selbst unterdrückt, aber im Familiensystem um Harmonie bemüht. Nach ihrem Tod bleibt nur das reine Patriarchat übrig – ein Mann, der in Nazi-Deutschland sozialisiert wurde. Das wollte ich im Detail untersuchen: Wie sind die Mechanismen dieser Unterdrückung, der Schädigung anderer und der Selbstschädigung, nicht nur am Einzelbeispiel, sondern strukturell?
Glauben Sie, dass man sich von einer solchen Vergangenheit befreien kann?
Vollständig loswerden kann man sie sicherlich nicht. Man kann damit umgehen. Und je genauer man sie analysiert, desto besser. Der Autor und Wissenschaftler Klaus Theweleit hat in seinem großen Werk „Männerphantasien“ die Auswirkungen des Dritten Reiches auf die damalige Männergeneration untersucht. Ihm, der kürzlich seinen 80. Geburtstag feierte, habe ich meinen Film geschickt, wegen der Parallelen zu Maries Vater. Aber trotz aller Analyse bleibt die Erfahrung mit diesen Vätern den Betroffenen letztlich in den Knochen stecken.
Woran arbeiten Sie gerade?
Ich weiß noch nicht, wohin die Reise geht. Ich hätte Lust, mich mehr in Richtung Komödie zu bewegen.
Wird es die Fortsetzung der biografischen Erzählung geben, die Sie eingangs angesprochen haben?
Interessant wäre, die Marie in ihren Berliner Jahren zu begleiten, etwa ab 1980, beim Autorenfilm, in der Theatergruppe und zuvor noch in den 1970ern bei ihrer Arbeit im Vietnamkomitee. Aber da würde ich gern zuvor die Reaktion auf Vatersland abwarten, wenn er demnächst im Kino anläuft. So ein Feedback macht etwas mit einem. So arbeite ich generell. Ich nehme mir nichts vor, sondern schaue, was die Dinge in mir auslösen.
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