Was haben Filmemacher und Opernsänger gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Aber klar ist, dass ihre Jobs sie oft wochen- oder monatelang von zu Hause wegführen, zu Tourneen oder Dreharbeiten. Wie sich unter diesen Bedingungen ein erfülltes Familienleben gestalten lässt – diese Frage stellt Dokumentarfilmer Lawrence Richards seinem Vater, dem renommierten Tenor John Treleaven. Als Kind bewunderte er seinen Dad, der unter anderem den „Siegfried“ gesungen hat, wie einen Superhelden im echten Leben – ein Drachentöter mit blitzendem Schwert und Bärenkräften. Aber natürlich stellt ein Minderjähriger seinen Eltern keine Fragen nach der Work-Life-Balance. Heute, im Erwachsenenalter, scheint das realistischer. Als John Treleaven eingeladen wird, in seiner ehemaligen Heimat Cornwall ein Konzert zu geben, sieht Regisseur Lawrence Richards die Chance gekommen, gemeinsam mit seinem Vater dort hinzureisen. Der stellt sich mit staunenswerter Offenheit den Fragen des Sohns. Vermutlich auch deshalb, weil der Regisseur bald selbst einen Sohn bekommen wird und ihm die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie höchst aktuell unter den Nägeln brennt.
Verliebt in Klippen und Meer
Für die Kamera von Justin Peach gerät die Ankunft in Cornwall zur Liebe auf den ersten Blick. Drohnenflüge umschmeicheln die Klippen am Meer, flirten mit Fischerdörfern und saugen die Ferienstimmung des Sommers auf. Irgendwann folgt der Kameramann Vater und Sohn zum kleinen Hafen von Johns Geburtsort Porthleven. In der Badehose steigen sie hinab in das schlammige, kalte Wasser an der südwestlichen Spitze Großbritanniens. Natürlich gäbe es in dem Ferienort idyllischere Badegelegenheiten. Aber hier, im Hafen, hat angefangen, was sich wie ein Märchen anhört. Früher badete John, Sohn eines Fischers, oft hier – und meistens pflegte er dabei nach Lust und Laune zu singen. Eines Tages, John war gerade 17, kam eine Musikerin vorbei und erkannte das Potenzial dieser Stimme. Sie sorgte dafür, dass der aus kleinen Verhältnissen stammende John eine Gesangausbildung in London bekam. Zwölf Jahre später stand er erstmals als Solist auf der Bühne der Royal Opera.
Viele Kinofilme – egal ob Doku oder fiktiv – erzählen die Vater-Sohn-Beziehung als Konflikt. Insofern irritiert Son of Cornwall vor allem in den ersten 45 Minuten auf eine wohltuende Weise. Endlich einmal wendet sich ein Regisseur ab von der Dramatik des abwesenden Vaters, der daraus resultierenden Defizite und des vergeblichen Kampfes um Anerkennung. Filmemacher Lawrence Richards, fast genauso oft im Bild wie sein Vater, wirft einen warmherzigen Blick auf den Helden seiner Kindheit, obwohl der Vater die Familie oft allein lassen musste. Und der Vater schaut genauso zärtlich auf seinen Sohn – aus tiefem Herzen bemüht, so ehrlich wie möglich zu sein und ihm dadurch dabei zu helfen, seinen eigenen Weg als Künstler und als Familienvater zu finden. So viel Harmonie scheint fast verdächtig, wäre da nicht ein überraschendes Geheimnis, das der Vater irgendwann unter Tränen in einer Kapelle offenbart und das natürlich nicht verraten werden soll, weil es ein geschickter dramaturgischer Schachzug ist und der Dokumentation noch einmal eine ganz neue Tiefe verleiht.
Auf Augenhöhe mit dem Heimatchor
Man kann Son of Cornwall unter vielen Gesichtspunkten sehen: als Innenansicht vom Beruf des Opernsängers, als Verbeugung vor dem Glück, seinem Traum folgen und eine künstlerische Karriere erleben zu dürfen, und als Porträt eines Sängers, der bei allem Erfolg die Bodenhaftung nicht verlor. Rührend und wunderschön ist etwa die Episode, wenn John die Probe des Männerchors von Porthleven besucht, bei dem er als Jugendlicher schon mitgesungen hat und in dessen Reihen er sich nun eingliedert, auf Augenhöhe mit den zum Teil schon sehr alten Männern. Natürlich ragt der Startenor stimmlich heraus, aber menschlich – das zeigen die Bilder – ist er immer einer von ihnen geblieben, der Fischersohn mit der schönen Stimme, der seinen alten Freunden mit leuchtenden Augen und dem typisch britischen, sich selbst nicht zu wichtig nehmenden Humor begegnet.
Ein roter Faden bleibt bei alldem die sanft nachhakende Nachdenklichkeit des Sohnes nach dem Preis des Ruhms. Wie fühlt sich das an, wenn man das erste Fußballspiel des Sohnes verpasst, weil man Tausende von Kilometern entfernt der Todessehnsucht von Tristan nachspüren muss? Und was sagt eigentlich Roxanne Richards, die Mutter des Regisseurs, zur Kehrseite einer steilen Karriere? Immerhin war sie, als sie sich in ihren Mann verliebte, selbst ein aufstrebender Star am Opernhimmel. Die Antworten auf diese Fragen zeigen: Eine Patentlösung gibt es nicht. Jede und jeder muss die Balance zwischen Familie und Karriere auf seine eigene Weise austarieren, und das beileibe nicht nur in künstlerischen Berufen. Die Generation von John und Roxane löste das Problem sicherlich auf andere Weise, als es der Regisseur und seine Frau Rebecca, die für das Drehbuch mitverantwortlich zeichnet, tun werden.
OT: „Son of Cornwall“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Lawrence Richards
Drehbuch: Lawrence Richards, Rebecca Richards
Musik: John Treleaven
Kamera: Justin Peach
Wer mehr über Son of Cornwall erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, uns im Interview mit Regisseur Lawrence Richards über seinen Dokumentarfilm unterhalten.
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)