William Tell (Oscar Isaac) ist ein geschickter, wenn auch wenig ambitionierter Kartenspieler, der während seiner Zeit im Gefängnis die Kunst des Kartenzählens gelernt hat. Dass er mit seinem Talent mehr Geld einnehmen könnte, ist ihm bewusst. Er zieht es aber vor, nur kleine Summen zu gewinnen und unauffällig zu bleiben. Der Poker-Agentin La Linda (Tiffany Haddish) ist dieses Talent dennoch nicht verborgen geblieben, weshalb sie ihm das Angebot macht, mit ihr zusammen dick ins Geschäft einzusteigen. Doch Tell lehnt ab, will sein ruhiges, einfaches Leben behalten. Das ändert sich erst, als er bei einem Vortrag von Major John Gordo (Willem Dafoe) den jungen Cirk (Tye Sheridan) kennenlernt. Denn der weiß um die Vorgeschichte des Kartenspielers und weshalb er bei diesem Vortrag war …
Eine überfällige Würdigung
Eigentlich hatte man Paul Schrader ja schon ein wenig abgeschrieben. So groß der Beitrag des US-amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautoren in der Vergangenheit zweifelsfrei war, dem Veteranen wollte einfach nichts mehr gelingen. Titel wie The Canyons oder Dog Eat Dog waren weit von dem entfernt, wozu der Filmschaffende in seinen guten Tagen in der Lage war. Mit First Reformed kam 2017 dann etwas überraschend das Comeback. Die Geschichte um einen Priester, der eine persönliche Sinnkrise durchmacht, wurde zu einem späten Triumph, der weltweit euphorische Kritiken erhielt. Schrader durfte sich zudem das erste Mal über eine Oscar-Nominierung freuen, vergeben für das beste Original-Drehbuch. Daraus wurde am Ende zwar nichts. Aber es war doch eine schöne Überraschung, für ihn selbst wie für alle anderen.
Bei The Card Counter fehlt eine solche Würdigung leider. Dabei ist auch dieses Thrillerdrama ein sehr sehenswerter Film, der vor Augen führt, dass man den Filmemacher nicht vorzeitig in Rente schicken sollte. Er ist dem Vorgänger zum Teil auch recht ähnlich. Erneut steht ein Mann im Mittelpunkt, der ein geregeltes, solides Leben führt, das durch andere aber auf den Kopf gestellt wird. Den ersten „Angriff“ durch die mit Geld lockende La Linda kann Tell noch abwehren – zu zufrieden ist er mit dem Leben, das er sich erschaffen hat. Dieses ist von Routine und absoluter Kontrolle geprägt. Dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Zählen von Karten bestreitet, passt da natürlich ins Bild. Wo andere sich beim Spielen dem Zufall oder der Intuition hingeben, da ist für ihn klar, dass er sein Schicksal selbst bestimmen muss.
Der Trost des Gefängnisses
Schön ist dieses Schicksal nicht. Zumindest hat man nicht den Eindruck, dass Tell sein Leben übermäßig genießt. Er könnte mehr erreichen, finanziell und privat. Selbst als La Linda in sein Leben tritt und er in beiderlei Hinsicht einen Aufbruch vor Augen hat, bleibt er auf der Bremse. Mit einem Wunsch nach Freiheit hat das weniger zu tun. Tatsächlich fühlte sich der Protagonist im Gefängnis durchaus wohl, wo alles seinen geordneten Gang hatte. Er wusste, wie alles läuft, wie alles laufen wird. Das Leben danach ist in The Card Counter erneut ein Gefängnis, jedoch eines, das selbst gewählt wurde. Schrader erzählt die Geschichte eines Mannes, der sein Inneres einsperrt, die Gefühle und Erinnerungen. So lange er weiß, welche Karten im Spiel sind, ist alles in Ordnung, hat alles seinen Platz.
Das Thrillerdrama, welches bei den Filmfestspielen von Venedig 2021 Premiere feierte, schildert, wie diese Ordnung zunehmend nicht mehr funktioniert. Wie – im übertragenen Sinne – auf einmal Karten auftauchen, die nicht ins Spiel gehören. Die Begegnung mit anderen Menschen zieht den gefürchteten Kontrollverlust nach sich, er kann sich selbst nicht länger entkommen. Er kann auch seinen Erinnerungen nicht entkommen: Schrader inszeniert diese in The Card Counter als verfremdete Alpträume, die zwar deutlich machen, worum es geht, einen aber orientierungslos zurücklassen. Zusammen mit Tell, der nicht Tell ist, werden wir zu Zeugen einer bestialischen Barbarei, die viele Opfer nach sich zog. Einige direkt, andere indirekt.
Erlösung durch Zerstörung
Daraus hätte man auch ein tränenreiches Erlösungsdrama machen können. Schrader zieht es jedoch vor, diese Erlösung zu einem ebenso zerstörerischen Akt zu machen wie die Ereignisse, die am Anfang der Hölle standen. Das ist hervorragend von Oscar Isaac gespielt, dessen Figur in einem ständigen Wettstreit zwischen Trauma und Kontrollsucht steht. Der alles hinter sich lassen will und dabei doch ein Gefangener ist, ob nun mit oder ohne Gitter. Während The Card Counter so nach und nach an Intensität gewinnt, wird auch ein unheilvoller Fatalismus deutlich, der den Figuren folgt. Das setzt mehr auf Atmosphäre als auf Handlung. Auch wenn Schrader mit der Zeit einen härteren Ton anschlägt, viel passiert in seinem Film nicht. Umso beeindruckender ist, wie spannend die Geschichte eines Mannes ist, der sich mit Zahlen zu betäuben versuchte, dabei aber von der Vergangenheit eingeholt wird.
OT: „The Card Counter“
Land: USA
Jahr: 2021
Regie: Paul Schrader
Drehbuch: Paul Schrader
Musik: Alexander Dynan
Kamera: Alexander Dynan
Besetzung: Oscar Isaac, Tiffany Haddish, Tye Sheridan, Willem Dafoe
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