Charlotte (Laura Balzer) ist schwanger, in einer zerbombten deutschen Stadt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verzweiflung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Denn Ludwig (Henning Flüsloh), der Vater des Kindes, will nach der Rückkehr von der besiegten Wehrmacht eine andere heiraten. Eine, die seinem Vater, dem reichen Textilfabrikanten, besser gefällt als das verhuschte arme Mädchen, das unter Stress ins Stottern verfällt. Aber Charlotte, das Mädchen aus den Trümmern, will auferstehen wie der Phönix aus der Asche, als leuchtender Stern, unwiderstehlich für den schwachen, wie ein Fähnchen im Wind wehenden Ludwig. Sie geht zu Gloria (Valery Tscheplanowa). In deren „Fräuleinkurs“ lernen junge Frauen die Kunst, einen Mann an sich zu binden. „Wer Lust erzeugt, hat Macht“, verspricht die Lehrerin, die selbst einmal eine große Verführerin war, ein Theater- und Leinwandstar. Aber was tun mit der Frauenpower der Stunde Null, in der alles möglich scheint? Sie herschenken an das Wirtschaftswunder der 1950er, mit VW-Käfer, Waschmaschine und Heimchen am Herd? Oder die Herrschaft der Männer ein für allemal beenden und mindestens Gleichberechtigung erzwingen, vielleicht sogar ein neues Matriarchat?
Spiel mit Schein und Sein
Ein ehemaliges Theater, leer dunkel, labyrinthisch. Hier hält Kursleiterin Gloria Hof wie eine Königin. Schreibend sitzt sie vor einem Spiegel, schaut Bittstellerin Charlotte gar nicht an. Herrisch der Tonfall, herablassend und beleidigend. Das Mädchen muss betteln, weinen, sich erniedrigen, um in Glorias Kurs aufgenommen werden. Barsch wird sie am Ende weggeschickt. Aber dann treten Tränen in Glorias Augen, ihr Mund zuckt. Charlottes Geschichte scheint etwas aufgerührt zu haben in der stolzen Frau. Aber was? Das bleibt lange offen in einer Dramaturgie und einem Inszenierungsstil, die vom Spiel mit Sein und Schein leben. Das Theaterhafte ist ebenso Programm wie das Jonglieren mit filmischen Mitteln, der Wechsel zwischen Schwarz-Weiß und Farbe, Traum und Wirklichkeit. Realismus und Fantasie, Kunst und Leben.
Die typische Erzählung von den Trümmerfrauen geht so: In der Stunde Null waren es weibliche Arbeitskräfte, die anpackten und die Ärmel hochkrempelten. Das Patriarchat machte Pause, weil die Männer gefallen waren oder körperlich verwundet heimkehrten, geschlagen zudem mit seelischen Traumata, als Verlierer. In heldenhafter Arbeit sprangen die Frauen für sie ein, bauten das Land wieder auf, sodass die Männer ihre Wunden lecken konnten – bis zu ihrem Comeback als Ernährer, Familienväter und Tyrannen. Heißt ein Film Trümmermädchen – Die Geschichte der Charlotte Schumann, so erwartet man, dass er diesen Mythos mit geringen Abweichungen bedient.
Aber Regisseur Oliver Kracht macht in seinem Debüt etwas ganz anderes. Er schlägt die Glorifizierung der Aufbauarbeit beherzt in Trümmer, um die Scherben neu zusammenzusetzen und die Historie quasi filmisch umzuschreiben, ähnlich wie Quentin Tarantino in Inglourious Basterds, wo Hitler in einem Pariser Kino erschossen wird. Vergleichbar drastisch in Sex- und Gewaltszenen, schildert Kracht die Selbstbefreiung der Frauen aber nicht als Persiflage, sondern als schmerzhaften Prozess mit einigen Hindernissen und Rückfällen.
Tief sitzende Tabus
Die Parole „Mösen an die Macht“, mit roter Farbe an Hauswände gepinselt, ist nur die plakative Zuspitzung einer schwierigen Selbsterkundung, die tief ins Persönliche reicht. Der Regisseur und Drehbuchautor schaut sich in seiner kunstvollen Collage aus Rollenspielen, Gruppentherapie und Hypnose sehr genau an, was nicht nur das „Tausendjährige Reich“, sondern ein großer Teil der Menschheitsgeschichte mit Frauen und Mädchen gemacht haben und bis heute machen – angefangen von der Tabuisierung weiblicher Lust bis hin zu sexuellem Missbrauch, Inzest und Vergewaltigung als Mittel der Kriegführung. In aller Schmerzhaftigkeit lotet das Drehbuch aus, wie tief sich die Männerherrschaft im individuellen und kollektiven Unbewussten festsetzt.
Wüsste man es nicht besser, würde man die Wut und die Leidenschaft, mit der hier in aller Schonungslosigkeit für die sexuelle Befreiung der Frau gestritten wird, einer weiblichen Handschrift zuschreiben. Nur in den expliziten Gewaltszenen kann Oliver Kracht, der für sein Drehbuch 2019 den renommierten Thomas-Strittmatter-Preis gewann, den männlichen Blick nicht verleugnen. Ansonsten ist es bewundernswert, mit welchem Feingefühl sich der Filmemacher (Jahrgang 1981) der Nöte und Sehnsüchte des anderen Geschlechts annimmt. Er hatte dabei Unterstützung von prominenter Seite. Die ehemalige Theaterintendantin Elisabeth Schweeger beriet Kracht in zeitgeschichtlichen und politischen Fragen. Sie sagt über ihn: Es sei kaum zu glauben, dass ein junger Mann Frauen in diesem Maße begreifen könne.
OT: „Trümmermädchen – Die Geschichte der Charlotte Schumann“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Oliver Kracht
Drehbuch: Oliver Kracht
Musik: Patrick Puszko
Kamera: Marvin Schatz
Besetzung: Laura Balzer, Valery Tscheplanowa, Anna Gesa-Raija Lappe, Katja Hutko, Lara Feith, Lena Urzendowsky, Till Wonka, Henning Flüsloh
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