In den letzten Jahren vor der Pandemie war bisweilen der Fokus vieler Medienberichte, wenn es um das Thema Indien ging, immer wieder bei der Berichterstattung schrecklicher Verbrechen, die sich meist gegen Frauen richteten. Im Kontext der damals vorherrschenden #MeToo-Debatte diskutierte man nun auch innerhalb des Landes wieder über die Rechte von Frauen, die sich zwar dank Globalisierung und weltweiter Modernisierungsprozesse wie der Digitalisierung verändert hatten, aber noch lange nicht das ganze Land betrafen. Wie in vielen anderen Ländern verstellt der mediale Fokus auf ein Problem oder ein Ereignis die Sicht auf die Komplexität dieser Taten, ihrer Zusammenhänge, die bis in die Geschichte des Landes zurückreichen, sogar bis in die Zeit vor der Kolonialisierung. Gerade wenn man die Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Gebieten berücksichtigt, wird deutlich, wie bedeutend die Unterschiede sind in Bezug auf Bildung und Umgang mit Sexualität, und wie sehr Konzepte wie das Kastensystem und die arrangierte Ehe, die eigentlich per Gesetz verboten sind in Indien, nach wie vor das soziale Leben vieler Menschen bestimmen. Zugleich zeigt sich ein sehr ernüchterndes Bild auf die größte Demokratie der Welt, die sich nicht nur in einem Netz der Korruption wiederfindet, sondern es bis heute nicht geschafft hat gegen diese altertümlichen Konzepte vorzugehen, nicht zuletzt aufgrund von Faulheit und Eigennutz, legitimiert diese doch soziale Hierarchien.
Neben den eingangs erwähnten Ereignissen waren es auch Ereignisse wie der Suizid von Rohith Chakravarti Vemula, eines indischen Gelehrten an der Universität von Hyderabad, was die Situation der Dalits (der „Unberührbaren“) nochmals deutlich machte und den Grundstein legte für eine Protestwelle, die das ganze Land erfasste. Dieses Ereignis stellt, neben vielen anderen Quellen, auch das Fundament der Dokumentation A Night of Knowing Nothing von Regisseurin Payal Kapadia dar, der unter anderem im Programm der Filmfestspiele in Cannes 2021 lief sowie auf dem Toronto International Film Festival im selben Jahr. Dabei will A Night of Knowing Nothing nicht nur auf die gesellschaftlich-politische Diskussion aufmerksam machen, sondern zugleich auf eine ganze Reihe andere Phänomene, angefangen bei staatlicher Zensur und Islamophobie, welche in den einzelnen Segmenten der Dokumentation eine Rolle spielen. Als Rahmenhandlung dient dazu die Geschichte einer Filmstudentin namens L., von der man eine Kiste mit Filmmaterial und persönliche Gegenstände an ihrer Universität, dem Film and Television Institute of India fand.
Das Ändern des Narrativs
In gewisser Weise erinnert A Night of Knowing Nothing, ästhetisch wie erzählerisch, an jene Experimente im Bereich Dokumentarfilm, welche Jean-Luc Godard in den 1960er Jahre anstellte. Von daher darf man Kapadias Dokumentation auch als jene Form des künstlerischen Protests betrachten, dessen teils fragmentarische Struktur nicht nur der Natur des Materials der Filmstudentin geschuldet ist, sondern ebenso ein Spiegel sein soll einer Welt, die immer mehr aus den Fugen geraten droht. Die Regisseurin ist dabei keinesfalls nur eine Akteurin hinter der Kamera, denn bei jenen Proteste anlässlich der Ernennung eines recht-konservativen Schauspielers als neuer Dekan der Universität nahm sie aktiv teil und muss bis heute noch wegen ihrer Teilnahme juristische Konsequenzen fürchten. Dieser Moment, der ausgeht vom Tod Vemulas, wird zu einem Funken, der übergeht auf viele andere Protestbewegungen Indiens, die Kapadia ebenso integriert und somit die Kluft zwischen Gesellschaft und Politik zeigt, ebenso wie jenes Narrativ, welches die Regierung um Präsident Narendra Modi konstruiert, um sich zu schützen und jene Protestler gar als Staatsfeinde erscheinen zu lassen.
Auch wenn A Night of Knowing Nothing von seiner Thematik her agitatorisch erscheint und dies an vielen Stellen auch ist, ist doch ein wesentlich anderer Ton maßgebend für die Dauer der anderthalbstündig Dokumentation. Die bereits erwähnte Rahmenhandlung um eine junge Studentin, der aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit die Beziehung zu ihrem Freund verwehrt bleibt, zeigt vielmehr eine tiefgehende Trauer um derlei Zustände sowie eine Solidarisierung mit solchen Schicksalen. Mittels einer entsprechenden Kombination der einzelnen Segmente durch den Schnitt wird die gesellschaftliche Bedeutung jener Konflikte gezeigt, wird die Notwendigkeit einer Veränderung gezeigt.
OT: „A Night of Knowing Nothing“
Land: Indien, Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Payal Kapadia
Drehbuch: Payal Kapadia, Himanshu Prajapati
Kamera: Ranabir Das
Cannes 2021
Toronto International Film Festival 2021
DOK Leipzig 2021
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