Mit ihrer Neuproduktion Alles, was man braucht hält die deutsche Dokumentarfilmerin Antje Hubert (Von Bananenbäumen träumen) das Aussterben der kleinen Dorfläden fest, die im Zeitalter der Globalisierung und der stark steigenden Produktvielfalt nicht mehr mithalten können. Passend zum Kinostart am 28. April 2022 hatten wir die Möglichkeit eines Interviews, in dem wir die vielfältigsten Fragen stellen konnten.
Wie sind Sie auf die Idee ihrer Neuproduktion gekommen und welche Intention oder Absicht steckt dahinter?
Das ist jetzt der vierte Film, der das Landleben thematisiert. Ich beschäftige mich damit schon länger. Mich interessieren der gewaltigen Strukturwandel im ländlichen Raum und seine Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. Dadurch, dass ich auf dem Land groß geworden bin, ist das auch ein persönlicher Film. Wir haben an insgesamt acht Orten in Nord- und Ostdeutschland gedreht, u.a. in Müden/Örtze, wo ich groß geworden bin. Dort gab es zu meiner Kindheit viele kleine Läden, die irgendwann von der Oberfläche verschwanden. Das ist in ganz Deutschland so passiert, im Westen schon seit den 1970er Jahren, im Osten gleich nach der Wende. Seit 1990 sind 85 % aller kleinen Lebensmittelläden geschlossen worden!
„Wir haben alles, was man braucht“, war quasi der Werbeslogan dieser Läden, was ja nie wirklich stimmte, sondern das war mehr so eine Art Versprechen, dass man sich hier auf das Wichtigste konzentriert. Da wurde dann ständig austariert, was man wirklich braucht und was nicht. In einem ehemaligen Konsumladen in Wallmow haben wir die schöne Szene beobachtet, dass die Lieblingswurst eines kleinen Jungen nicht da war, aber das war für den überhaupt kein Problem. Nehmen wir halt eine andere. Orte, an denen der Umgang mit beschränktem Angebot selbstverständlich ist, sind in unserer Zeit des Überkonsums wirklich lehrreich. Ich wollte davon erzählen, dass es solche Orte noch gibt und – noch viel besser – dass sie von engagierten Menschen wieder neu erfunden werden.
Darüber hinaus finde ich es auch interessant, wenn man sieht, dass auf dem Land unglaublich viel Verunsicherung und Aufbruch herrscht, auch weil Leute aus der Stadt in ländliche Gebiete ziehen und ihre Idee von einem „guten Leben“ mit in die Provinz bringen. Das Bild vom Dorfleben wandelt sich also und dafür neue Bilder zu finden, die das Land nicht idealisieren, ist sehr spannend für mich.
Wie sah Ihre ursprüngliche Vision von Alles, was man braucht aus und konnten Sie diese zu einhundert Prozent so umsetzen, wie Sie es im Kopf hatten?
Das ist das Schöne beim Dokumentarfilm: Es gibt zuerst ja immer nur einen Entwurf von dem, was möglich sein könnte. Die Dreharbeiten waren besonders bei diesem Film wie eine Entdeckungsreise und das ist eine ganz tolle Art zu arbeiten. Mein Kameramann und ich ergänzen uns dabei wunderbar, denn wir können gut warten, bis etwas von allein passiert. Wenn kleine Geschichten zufällig passieren und wenn man die dann noch mit der Kamera einfangen kann, dann ist das jedes Mal ein großes Glück. Eine ursprüngliche Vision vom Film gab es also eigentlich nicht, stattdessen war es mehr ein Prozess, der beim Drehen stattfand und im Schnitt reflektiert wurde. Dann kamen Animationen dazu, die sich auch im Laufe des langen Schnittprozesses noch mehrfach verändert haben. Meine Intention, die ich vorhin angesprochen habe, hat sich aber erfüllt und darauf kommt es im Endeffekt an. Die Musik ist quasi der Träger dieser Intention, der Komponist war schon vor den Dreharbeiten mit in die Arbeit eingebunden und zusammen mit dem Kameramann haben wir uns musikalische Stimmungen ausgemalt.
Im Film kommen bis auf ein paar Ausnahmen eher ältere Herrschaften zur Sprache. Kommentare von der Jugend fehlen dagegen ein wenig. Denken Sie, dass Ihre Produktion ein Thema behandelt, mit dem man nur die älteren Kinogänger abholen kann?
Alter ist ja immer relativ – die Kaufleute, die im Film zur Sprache kommen, sind ja Mitte 40 bis Mitte 50. Also in meinem Alter. Darunter sind Leute, die fangen nicht nur einen Dorfladen, sondern ihr Leben noch mal neu an. Das fand ich spannend. Die Zielgruppe umfasst sowohl Jung als auch Alt. Bei der Premiere im Rahmen der Internationalen Hofer Filmtage waren Studentinnen aus Berlin dabei, die auf einem Dorf aufgewachsen waren und richtig in Jubel ausgebrochen sind, weil sie gleichzeitig vertraut waren mit dem „Setting“ und trotzdem überrascht wurden. „Wir hätten nie gedacht, dass uns diese Leute so viel zu erzählen haben!“ So etwas ist immer toll mitzuerleben, wenn ein Dokumentarfilm so eine Begeisterung auslösen kann. Wenn man also die jungen Leute ins Kino bekommt, dann können sich bestimmt auch viele davon in irgendeiner Art und Weise wiederfinden.
Ein Interviewgast hat geäußert, dass es in den kleinen Läden nie um den Konsum und die Waren geht, sondern mehr um das Zusammenkommen der Bevölkerung. Alles, was man braucht geht also über den Konsum hinaus und beinhaltet auch Gesellschaft. Ist dies die eigentliche Essenz der Produktion?
Das war eine tolle Beobachtung beim Machen des Films, dass das Einkaufen immer mehr umfasst als nur das Beschaffen von Waren gegen Geld. Es geht auch um Begegnung und Austausch von Erfahrungen, Informationen, Kochtipps, Lebensweisheiten und natürlich auch Tratsch. Solche Momente sind in Hinblick auf den ganzen Dokumentarfilm also sehr wichtig, worauf wir auch beim Schnitt sehr geachtet haben. Wir erzählen ja von ganz unterschiedlichen Läden, und dennoch ist es überall so, dass sich die Menschen nach genau diesem sozialen Aspekt sehnen. Jeder Laden trägt die, ich nenne es mal, Handschrift der Kundschaft, er spiegelt das Dorf und die Bedürfnisse seiner Bewohner und Bewohnerinnen. Wenn die Leute Biosachen kaufen wollen, gibt es eine Bioecke, wollen sie Kaffeetrinken, gibt es einen Kaffeetisch. Auch große Läden oder Supermarktketten unternehmen Versuche das zu kopieren. Klar sieht man mittlerweile in jeder Einkaufspassage auch Kaffee-Ecken, aber das hat nicht wirklich den Charme wie die Kaffeetische in den kleinen Dorfläden. Im Supermarkt oder Discounter gibt es aber auch nicht die Ressource „Zeit“. Hier muss alles schnell gehen und es muss wirtschaftlich sein. Leider müssen die kleinen Läden das auch. Und an der Stelle stellen wir eben die Frage: Wie wollen wir leben, einkaufen, wirtschaften und was brauchen wir wirklich?
Ist das Verschwinden der Kleinläden nur in Deutschland der Fall oder wie sieht das im globalen Vergleich aus? Gibt es da vielleicht sogar Länder, von denen sich Deutschland etwas abschauen kann?
Ich habe am Anfang in die Schweiz, Österreich und Frankreich geschaut und es sieht in der Hinsicht überall ähnlich aus: Die kleinen Läden sind in ihrer Existenz bedroht. Das ist aber auch nicht überraschend, denn die Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel auf wenige große Player und immer größere Verkaufsflächen ist überall in Europa zu finden, das ist Kapitalismus pur, und wie sollen unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit die kleinen Läden eine Chance haben? Neuerdings gewinnen die 24/7 Läden, die permanent aufhaben, an Bedeutung. Ich habe von Beispielen aus Schweden gelesen, in Deutschland ebenso. Da man hierfür kein Personal braucht und als Kunde rund um die Uhr mit Karte einkaufen kann, rentieren diese Läden sich selbst in den Dörfern. Ich bin aber skeptisch, ob das eine Lösung ist, die mir gefällt. Wenn sich Menschen in Genossenschaften oder Gesellschaften zusammenschließen, und dann zusammen einen Laden aufmachen, dann entspricht das in meinen Augen eher einer guten Entwicklung. Aber genau das passiert ja auch immer häufiger: dass Menschen sich zusammenschließen, nach dem Motto „gemeinsam sind wir stark“, wie wir in unserem Film zeigen. Es gibt inzwischen auch interessante Fördermodelle für Dorfläden und ich hoffe, dass wir mit unserer Produktion einen Diskussionsbeitrag zu der Frage leisten „wie kann es (noch) besser gehen?“
Im Presseheft werden die kleinen Konsumläden als Wegweiser in eine bessere Zukunft betitelt. Wie würde eine ideale Welt aus Ihrer Sicht aussehen?
Ich würde eher den Begriff Kompass verwenden.
Dann bleiben wir bei Kompass.
Ja, das Wort empfinde ich als ganz passend. Ich muss aber dazusagen, dass ich vorsichtig bin bezüglich Formulierungen wie „ideale Welt“. Das alles ist ja ein Prozess und da gibt es auch keine einfachen Lösungen. Ich bin aber nach wie vor ein Freund von kleinen Strukturen. Da muss ich an Das Ding am Deich denken – ein Dokumentarfilm über den Widerstand gegen das AKW Brokdorf. Da erzählt einer meiner Protagonisten, der Jahrzehnte lang Widerstand geleistet hat, dass er auch für eine andere, dezentrale Stromversorgung kämpft: Nicht die Großen und Monopole sollten unsere Welt bestimmen, sondern kleine Strukturen – und das ist auch das Thema von Alles, was man braucht. Diese kleinen Dorfläden sind in der Hinsicht also ein unglaublich guter Kompass für Zukunftsfragen. Und hier zeigt sich auch: Es geht um etwas Kollektives, wo jeder Mensch mitmachen kann, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Wirft man einen Blick auf Umfragen oder weitere Dokumentationen, so scheinen Themen wie Selbstversorgung, Minimalismus und autarkes Leben teilweise an Bedeutung zu gewinnen, auch bei jüngeren Menschen. Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?
Wir erleben massive Umbrüche, ganz besonders durch die Klimakrise, und wir müssen umsteuern. Ich glaube, dass wir das mittlerweile mehrheitlich erkannt haben. Es braucht also wahnsinnig viel Anstrengung, sowohl kollektiv als auch auf individueller Basis. „Verzicht“ wird ein sehr großes Thema werden und in vielen kleinen Läden zeigt sich, dass Verzicht nicht immer etwas Negatives sein muss. Im Vergleich zu den Supermärkten, in denen es z.B. -zig Sorten Joghurt, Waschmittel oder Apfelsaft gibt, ist man als Kunde teilweise total überfordert. In den Dorfläden haben wir immer etwas Spannendes gefunden. Einen schönen Wein oder einen leckeren regionalen Käse, das ist doch viel schöner als hundert Variationen von sämtlichen Waren. Generell sollte es also weniger um Quantität und Angebotsvielfalt gehen, solange der Genuss nicht drunter leidet. Da stimme ich mit dem Leiter eines großen Supermarktes überein, der im Film zur Sprache kommt, und meint, dass die Menschen immer mehr die einfachen Dinge zu schätzen wissen. „Aber was sind die einfache Dinge?“, fragt er und sagt dann: „Manchmal ist ein einfaches Glas Rotwein auch ganz fantastisch.“
Alles, was man braucht lautet der Titel. Wenn Sie es auf zwei, drei Sachen herunterbrechen müssten, was würden Sie persönlich sagen?
Das Tolle an dieser Frage ist: Man kann sie jeden Tag komplett neu beantworten. Nach zwei Jahren Corona und unter dem Eindruck des Krieges gegen die Ukraine denke ich jedoch, dass wir immer mehr herausgefordert werden, diese Frage grundsätzlicher zu beantworten. Ich würde sagen, wir brauchen vor allem Orte, wo wir uns begegnen und diese Frage öffentlich verhandeln können. Dorfläden und Kinos zum Beispiel. (lacht) Eine schöne Gemeinsamkeit, wenn man beide als Orte der Begegnung ansieht. Und deswegen wollen wir mit der Produktion auch unbedingt in die Kinos. Und ganz wichtig: Es wird auch Diskussionsveranstaltungen geben, in denen ich mich sehr auf das Publikum und interessante Gespräche freue. Wir werden sogar auf das Land fahren, wo es keine Kinos gibt, sondern wo man Kino selber macht, im Gemeindehaus, in der Scheune, im Gasthof, wenn es noch einen gibt. Kleine Strukturen neu aufbauen – so könnte man dazu auch sagen.
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!
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