Innerhalb der europäischen Filmgeschichte nimmt das Werk des Italieners Pier Paolo Pasolini sicherlich eine Sonderposition ein. Immer sozialkritisch und immer dabei tabuisierte oder gar heikle Themen aufgreifend nahm sich der Regisseur sowohl aktuelle Stoffe vor wie in seinem ersten Film Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß, welcher noch stark in der Sprache des Neorealismus verwurzelt ist, bis hin zu klassischen Stoffen wie in seinen Verfilmungen der Ödipus-Sage, des Decamerone oder den Canterbury Tales. Vor allem jedoch bleibt sein letztes Werk, der kontroverse Die 120 Tage von Sodom im Gedächtnis, nicht nur wegen seiner Radikalität, sondern vor allem wegen seiner Sicht auf einen nicht auszuräumenden Generationenkonflikt und die Kluft zwischen den Regierenden und ihren Untertanen, wie auf Kosten der Jugend ein repressives System aufrechterhalten wird.
Von Misanthropie, was man seinem Werk oftmals vorwirft, ist in seinen Filmen keine Spur zu finden, alleine schon, wenn man sich Pasolinis Notizen ansieht zu Das 1. Evangelium – Matthäus (1964), eine besondere Herausforderung für den bekennenden Atheisten, der in erster Linie die sozialkritischen Aspekte der Geschichte herausarbeitete. „Nichts erscheint mit gegensätzlicher zur modernen Welt als jene Christusfigur: sanft im Herzen, aber nie im Denken“, schreibt Pasolini in seinen Notizen. Konsequent zu diesen Gedanken verzichtete er dabei auf die Besetzung professioneller Darsteller und drehte auf Matera, eine kleine Gemeinde in Süditalien, welche in seinen Augen der perfekte Ort für eine moderne Version der Geschichte Jesus war.
Auch im Werk des Schweizer Regisseurs und Theaterautors Milo Rau spielen die Arbeiten Pasolinis eine wichtige Rolle. Neben einer Bühnenadaption von Die 120 Tage von Sodom für das Schauspielhaus Zürich, wollte sich Rau einer Adaption des Evangeliums nach Matthäus widmen, stieß dabei jedoch auf ähnliche Probleme wie der Italiener Anfang der 1960er Jahre, denn ebenso wie Pasolini beabsichtigte er einen Reflektion der heutigen Welt innerhalb der filmischen Erzählung. Zu diesem Zwecke zog es Rau und sein Team nach Matera, wo sie jene Realität vorfanden in Form von Flüchtlingsunterkünften und Menschen, die teils sogar ohne Strom und Wasser auskommen mussten. Schnell war klar, dass diese Frauen und Männer ebenso Teil der Gemeinde geworden waren, sodass Rau einige von ihnen kurzerhand besetzte, doch zugleich ihren Kampf um menschenwürdigerer Behandlung seitens der Regierung zu dokumentieren. So ist Das neue Testament, der 2021 mit dem Schweizer Filmpreis als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, nicht nur eine neue Version der bekannten Geschichte, sondern zugleich eine Sicht auf aktuelle Flüchtlingspolitik und die Rolle von Werten wie Würde und Gleichheit in der Moderne.
Die Revolte der Würde
Insgesamt ist Das neue Evangelium eine Art Zwitter, verbindet Rau doch Elemente des Dokumentarfilms mit denen des Spielfilms, auch wenn letzteres eindeutig den geringeren Anteil besitzt. Auf der einen Seite begleitet der Zuschauer die Genese des Projekts, von der Besetzung bis hin zum Filmen der ersten Szenen, doch bereits diese Aspekte sind eng verbunden mit der Beschaffenheit der Gemeinde, dem Status der Immigranten und damit jener Politik, die ihnen ein unwürdiges Leben in Europa beschert hat. Die Besetzung Yvan Sagnets als Jesus, eines Mannes, der nach Italien zum Studieren kam und sich seit 2011 für die Rechte von Einwanderern einsetzt, die in der Agrarwirtschaft Italiens ausgebeutet werden, ist dabei nur einer von vielen Momenten, welche die Fiktion des filmischen Raumes mit der Wirklichkeit verbindet, wirken die Reden des „schwarzen Jesus“ ähnlich kämpferisch wie Sagnets eigenen. Immer wieder ertappt man sich dabei, dass er einem schwerfällt, zwischen diesen beiden Ebenen zu unterscheiden, was sicherlich einen Teil der Motivation Raus ausmacht, geht es ihm doch gerade um jene Aktualität des Werkes in der Moderne.
Zugleich gibt es doch auch Punkte des Konflikts oder Widersprüche, die Raus Film nicht kaschiert, sondern sie im Gegenteil anpackt. Der Kampf von Menschen wie Sagnet, bei dem ihn Rau und sein Team unterstützen, spiegelt jene Werte wider, die er in seiner Rolle als Christus ebenso verkörpert, und die in der realen Welt von 2019, als Das neue Testament gedreht wurde, auf Hürden und Widerstand stoßen. Letztlich geht es um die Frage nach Werten wie Moral, Mitgefühl und Würde, und was in der heutigen Welt wichtiger zu sein scheint. Wohlstand und niedrige Preise, wie es Sagnet und seine Mitstreiter sagen, haben eine langfristige Konsequenz, wenn man in Kauf nimmt, dass dafür andere Menschen, die weniger Rechte haben und wegen einer undurchsichtigen Bürokratie nicht gegen das System ankommen, ans Kreuz geschlagen werden.
Thematisch und ästhetisch ist Das neue Evangelium sicherlich solide gemacht und profitiert von einem auch im Jahre 2022 nach wie aktuellen Thema. Bei einer Dauer von 107 Minuten schleicht sich jedoch auch eine gewisse Tendenz zu Repetition in Raus Dokumentation ein, die man durchaus noch etwas hätte kürzen können.
OT: „Das neue Evangelium“
Land: Deutschland, Italien, Schweiz
Jahr: 2020
Regie: Milo Rau
Drehbuch: Milo Rau
Kamera: Thomas Eirich-Schneider
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