Vortex
Szenenbild aus Gaspar Noés "Vortex" (© Rapid Eye Movies)

Gaspar Noé [Interview]

In Vortex erzählt der für seine provokativen Filme bekannte französische Regisseur Gaspar Noé von einem namenlosen älteren Ehepaar, das von Dario Argento und Françoise Lebrun gespielt wird. Dieses ist seit langer Zeit zusammen, führte ein glückliches Leben. Doch dieses Leben geht nun immer stärker auf sein Ende zu, die Frau leidet inzwischen auch an einer fortschreitenden Demenz, welche sie wiederholt orientierungslos zurücklässt. Anlässlich des Kinostarts am 28. April 2022 unterhalten wir uns mit dem umstrittenen Filmemacher über sein Drama und die Beschäftigung mit dem Tod.

 

Könntest du uns ein wenig über den Hintergrund von Vortex erzählen? Wie bist du auf die Idee für den Film gekommen?

Meine Produzenten kamen auf mich zu und fragten mich, ob ich eine Idee für einen Film hätte, den wir mit zwei oder drei Figuren irgendwo im Innenraum drehen könnten, um so auch in der Pandemie noch an einem Film arbeiten zu können. Also griff ich die Idee auf, die ich schon seit zehn Jahren mit mir herumschleppte, und schrieb zehn Seiten auf, die wir dann verschiedenen Interessenten zeigten. Die Idee war simpel: Es sollte um ein altes Ehepaar gehen, bei dem die Frau Demenz hat. Es gibt auch noch einen Sohn, der ein netter Kerl ist, aber schon auch ein Verlierer, und der früher Drogen genommen hat. Damit stießen wir auf großes Interesse, weil die Themen sehr universell sind. Einige wussten auch, dass meine eigene Mutter Demenz hatte, und dachten daher, dass es eine sehr persönliche Geschichte würde. Außerdem war Liebe vor einigen Jahren ein großer Erfolg gewesen. Danach ging es sehr schnell. Nur anderthalb Monate nach dem Schreiben dieser zehn Seiten konnten wir mit dem Dreh anfangen.

Und wie waren die Reaktionen, nachdem der Film fertig waren?

Es kommen sehr viele Menschen zu mir, fast die Hälfte aller Leute, die Vortex gesehen haben, und sagen, dass sie sich in meinem Film wiederfinden und ich ihre Lebensgeschichte erzählt habe. Dass sie durch eine Situation gehen, die genau wie die im Film ist. Wir kennen alle Leute, denen es so geht und die mit ähnlichen Familienproblemen zu kämpfen haben. Es will jedoch keiner darüber reden. Wenn deine Eltern Demenz haben oder Krebs oder irgendetwas anderes Furchtbares, behältst du das oft für dich. Es gibt auch nicht so viele Filme darüber. Und das obwohl es sehr universelle Themen sind.

Warum fällt es uns dann so schwer, darüber zu reden, wenn es derart universell ist und wir ohnehin alle früher oder später davon betroffen sind?

Weil du weißt, dass du dann als nächstes an der Reihe bist. (lacht) Wer will sich schon damit auseinandersetzen, später krank und schwach zu sein und auf Hilfe angewiesen zu sein? Noch schlimmer ist es für Leute, die selbst keine Kinder haben und deshalb wissen, dass niemand für sie da sein wird.

Die letzten Phasen im Leben deiner beiden Hauptfiguren sind schon sehr düster und nehmen einen mit, wenn wir mitansehen, wie sie immer weiter abbauen. Was denkst du, ist schlimmer: Tod oder der Prozess des Sterbens?

Ich denke, dass der schlimmste Aspekt der ist, nicht mehr zu leben. Ich glaube nicht daran, dass nach deinem Tod viel von dir zurückbleibt. Alles, was du getan hast, verschwindet früher oder später. Auch die DVDs meiner Filme sind irgendwann weg. Die Computer, die wir gerade benutzen, um uns zu unterhalten. Alles ist vergänglich. Deswegen ist es für mich wichtig, die Zeit zu nutzen, die wir haben. Das Leben ist so kurz. Da bist du es dir schuldig, das Beste daraus zu machen – selbst dann wenn dein Leben gerade auseinanderbricht.

Aber wenn von uns nichts bleibt, warum sind wir dann überhaupt hier? Welchen Sinn hat unser Leben?

Wer sagt denn, dass das Leben einen Sinn haben muss? Ich selbst denke nicht, dass es einen hat. Es existiert einfach nur. So wie die Steine auf einem Berg existieren. Bei denen würdest du auch nicht fragen, warum es sie gibt. Du kommst aus dem Nichts und wirst am Ende wieder zu Nichts. Und es geht nur darum, den kurzen Abschnitt zwischen diesen beiden Punkten zu füllen.

Und welches Ziel verfolgst du bei dem Füllen dieses Abschnitts?

Ich mache meine Arbeit. Die brauche ich, um leben zu können. Denn nur weil ein Leben keinen Sinn hat, heißt das nicht, dass du nicht etwas dafür tun musst. Wobei ich noch das Privileg habe, eine sehr angenehme Arbeit machen zu dürfen, wenn ich Filme inszeniere und Drehbücher schreibe. Denn wenn ich schon arbeiten muss, dann mache ich doch lieber etwas, das Spaß macht. Wenn ich die Wahl habe, Regisseur zu sein oder Finanzbeamter, dann nehme ich den Regisseur. Da kommst du wenigstens schön rum, dir werden Hotels bezahlt, Leute wollen dich interviewen. Es gibt schlimmere Weisen, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Eine Sache, die bei Vortex auffällt: Keine deiner Figuren hat einen Namen. Du erzählst gleichzeitig eine sehr persönliche Geschichte und bleibst doch anonym. Was hat dich dazu veranlasst?

Ich wollte eine sehr universelle Geschichte erzählen. Manchmal ist es nicht sehr produktiv, deiner Figur einen Namen zu geben. Wenn du sie John, Klaus oder François nennst, dann reduzierst du sie automatisch. Deshalb fand ich es besser, die Namen hier wegzulassen. Du brauchst sie auch nicht wirklich.

Formal ist dein Film dafür sehr ungewöhnlich, wenn du mit Splitscreens arbeitest. Wie kam es dazu?

Ich habe vorher schon bei zwei kürzeren Filmen solche Splitscreens verwendet, etwa bei Lux Æterna. Als ich mir der Arbeit an Vortex begann, entschied ich, das auch dieses Mal zu machen. Ich wollte damit zeigen, wie zwei Menschen unter einem Dach leben und dabei doch jeder getrennt von dem anderen ist. Aufgenommen haben wir das alles mit zwei Kameras. Eine habe ich gehalten, die andere mein Kameramann. Später beim Schneiden haben wir die Aufnahmen dann zusammengefügt. Das war sehr spannend und schön, weil wir immer wieder Situationen hatten, die wir so nicht vorhergesehen hatten. In einer Szene will Dario mit seinem Arm seine Frau berühren und taucht dadurch im zweiten Bildschirm auf.

Durch diese Arbeit mit den Splitscreens entsteht auch das Gefühl, dass die Figuren zwar unter einem Dach leben, aber nicht zusammen leben. Ist es überhaupt möglich, wirklich ein Leben mit jemandem zu teilen?

Du kannst zwar schon dein äußeres Leben mit jemandem teilen. Damit teilst du aber noch nicht automatisch dein inneres Leben. Du kannst mit jemanden zwei, drei, vier Jahre zusammen leben und auch Sex mit ihm haben, ohne zu erfahren, wer diese Person wirklich ist. Wenn du wissen willst, wie es in einem Menschen drinnen aussieht, dann musst du dessen Hand nehmen und schauen, was da drauf ist. Da bekommst du eine gute Vorstellung davon, wie jemand ist.

An einer Stelle in dem Film heißt es, dass Filme wie Träume sind. Würdest du dem zustimmen?

Das ist eine Aussage von Edgar Allen Poe, welche Dario da zitiert. Ich finde sie sehr schön und poetisch. Und auch passend. Wobei ich das ganze Leben wie einen Traum wahrnehme. Am Tod selbst ist nichts Mystisches. Das ist einfach nur ein Nicht-Leben. Das Leben ist hingegen voller Geheimnisse, die du nie wirklich verstehst.

Nun gibt es verschiedene Konzepte des Träumens. Da ist das gezielte Träumen, wenn man beispielsweise hofft etwas zu erreichen. Und es gibt das nächtliche Träumen, bei dem wir im Unterbewusstsein Sachen verarbeiten.

Ich denke, dass bei Filmen vieles unterbewusst abläuft und du da deine Ängste und Sehnsüchte ausdrückst. Manchmal zeigst du darin aber auch etwas, von dem du denkst, dass es kommen wird. Und dann ist da natürlich noch das magische Element, das du immer wieder drin hast. Das ist von Film zu Film anders.

Ganz generell: Was willst du mit deinen Filmen erreichen?

Gegenfrage: Was willst du erreichen, wenn du in eine Bar gehst und etwas trinkst? Für mich ist Filmemachen so etwas wie ein Barbesuch und meine Form der Kommunikation. Einfach meine Weise, mir die Zeit zu vertreiben.

Kommen wir noch zum Titel: Warum hast du deinen Film Vortex genannt?

Es gab einen Science-Fiction-Film namens Das schwarze Loch, auf dessen Poster du einen riesigen Strudel gesehen hast. Dieses Nichts, das vor uns kommt und nach uns kommt, das wollte ich mit dem Titel ausdrücken.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Gaspar Noé wurde am 27. Dezember 1963 in Buenos Aires, Argentinien geboren. Im Alter von zwölf Jahren zog er mit seiner Familie nach Paris. Dort studierte er später auch Philosophie und Filmwissenschaft am École Louis Lumière. 1985 erschien sein erster Kurzfilm Tintarella di Luna. 1998 folgte sein erster Langfilm Menschenfeind. Das Thrillerdrama handelte von einem Schlachter und basierte auf seinem früheren Kurzfilm Carne (1991). Aufgrund der expliziten Sex- und Tötungsszenen spaltete der Film das Publikum. Mit Irreversibel (2002), seinem zweiten Langfilm, bestätigte er seinen Ruf als Skandalfilmer und erzählte die Geschichte einer Frau, die brutal vergewaltigt wird. Für seine Filme wurde er mehrfach ausgezeichnet, zweimal war er für die Goldene Palme in Cannes nominiert.



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