Camille (Makita Samba) weiß, was er im Leben erreichen möchte. An beruflichen Zielen mangelt es dem Lehrer zumindest nicht, selbst wenn er damit nicht unbedingt immer auf Gegenliebe stößt. Was die Liebe innerhalb einer Beziehung angeht, da ist bei ihm hingegen nicht viel zu holen. Diese Erfahrung macht auch Émilie (Lucie Zhang), bei der er einzieht und mit der er einige Nächte verbringt, ohne daraus mehr machen zu wollen. Dabei hat Émilie beruflich schon genug um die Ohren, denn trotz Studium hangelt sie sich von einem Aushilfsjob zum nächsten. Nora (Noémie Merlant) steckt derweil noch mittendrin in ihrem Studium, das sie nun endlich ernsthaft angehen möchte. Aber auch das stellt sich als schwierig heraus, denn aufgrund einer Verwechslung wird sie für Louise (Jehnny Beth) gehalten, die unter dem Namen Amber Sweet im Internet erotische Dienste anbietet …
Der Alltag einer Großstadt
Für eine kurze Zeit sah es so aus, als wäre der für Dramen wie Ein Prophet oder Der Geschmack von Rost und Knochen gefeierte französische Autorenfilmer Jacques Audiard in Hollywood angekommen. Doch trotz eines absurd prominenten Ensembles, durchweg guter Kritiken und reichlich Festivalauftrieb ging sein englischsprachiges Debüt The Sisters Brothers an den Kinokassen baden. Die breite Masse wollten seinen eigenwilligen Western um ein mörderisches Bruderpaar nicht sehen. Und so kehrte er einige Jahre später mit Wo in Paris die Sonne aufgeht“ in seine Heimat zurück. Doch wer deshalb meinte, er würde einfach dort anknüpfen, wo er seinerzeit aufgehört hatte, sah sich getäuscht. Denn auch wenn der Film durchaus typische Elemente des Regisseurs hat, so ist er doch recht eigenwillig.
So fällt auf Anhieb natürlich die Optik auf: Die farbenfrohen Aufnahmen der amerikanischen Idylle in The Sisters Brothers sind Schwarzweiß-Bildern der französischen Großstadt gewichen. Und es geht hier eben nicht um die nobel-stilvollen Postkartenmotive aus der Stadt der Liebe. Vielmehr ist es das alltägliche Paris, das im Mittelpunkt steht. Menschen, die in den Hochhäusern im Süden der Stadt leben, wo alles zusammenkommt, das nicht das nötige Geld für bessere Wohngegenden hat. Richtig schön ist es dort nicht, alles ist irgendwie beengt und anonym. Gleichzeitig handelt es sich bei Wo in Paris die Sonne aufgeht eben nicht um eines der typisch französischen Sozialdramen, die sich mit Problemvierteln befassen. Das hier ist kein Die Wütenden – Les Misérables, kein Film über Minoritäten, Ghettos und Gewalt. So gibt es zwar einen diversen Cast – Émilies Familie kommt aus Fernost, Camille ist dunkelhäutig –, ein wirkliches Thema ist das aber nicht.
Die Flüchtigkeit des Seins
Stattdessen erzählen Audiard und seine beiden Co-Autorinnen Céline Sciamma (Porträt einer jungen Frau in Flammen) und Léa Mysius (Ava – Plötzlich erwachsen), was es bedeutet, durch eine moderne Welt zu manövrieren, in der irgendwie alles möglich, aber nichts von Belang ist. Der Sex ist flüchtig, allgemein sind zwischenmenschliche Beziehungen brüchig. Auch die Arbeit bietet nicht die Sicherheit, die sie früher einmal darstellte. Gleichzeitig ist Wo in Paris die Sonne aufgeht aber auch ein recht heiterer Film. Audiard selbst bezeichnet ihn gar als eine Komödie. Diese Ansicht muss man nicht unbedingt teilen, zumindest wenn man Komödie mit tatsächlichen Witzen oder so gleichsetzt. Die Geschichte der vier ist keine, bei der es allzu viele Lacher gibt. Und doch werden die ernsten Themen wie Identität und Sinnsuche oder auch die Sehnsucht nach Nähe nicht als bleischweres Drama umgesetzt. Da ist immer eine gewisse Leichtigkeit in den flüchtigen Begegnungen.
Dieses Flüchtige ist natürlich einerseits Thema von Wo in Paris die Sonne aufgeht. Es ist aber auch durch die Vorlage bedingt: Die einzelnen Handlungsstränge basieren auf Kurzgeschichten, die der New Yorker Comicbuch-Autor Adrian Tomine verfasst hat und die hier nach Frankreich verlegt wurden. Der Film, der bei den Filmfestspielen von Cannes 2021 Weltpremiere feierte, behält dieses Episodenhafte bei. Zwar gibt es immer wieder Überschneidungen, wenn sich die vier Hauptfiguren auf die eine oder andere Weise über den Weg laufen. Aber es bleibt bei Momentaufnahmen. Diese sind dafür unbedingt sehenswert, zeigen Licht und Schatten einer Welt, in der alles mit jedem verbunden ist und doch die Menschen zunehmend allein durch die Häuserschluchten wandern, auf der Suche nach einer billigen Wohnung, Anschluss und auch sich selbst.
OT: „Les Olympiades“
IT: „Paris, 13th District“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard
Vorlage: Adrian Tomine
Musik: Rone
Kamera: Paul Guilhaume
Besetzung: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Camille Léon-Fucien, Océane Cairaty
Wer mehr über Wo in Paris die Sonne aufgeht erfahren möchte: Wir haben uns mit dem gefeierten Regisseur Jacques Audiard im Interview über die Entstehung des Films unterhalten, aber auch wie die Zusammenarbeit mit seinen Co-Autorinnen war und wie sich Liebe heute von früher unterscheidet.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Cannes | 2021 | Goldene Palme | Nominierung | |
César | 2022 | Beste Nachwuchsdarstellerin | Lucie Zhang | Nominierung |
Bester Nachwuchsdarsteller | Makita Samba | Nominierung | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard | Nominierung | ||
Beste Musik | Rone | Nominierung | ||
Beste Kamera | Paul Guilhaume | Nominierung | ||
Prix Lumières | 2022 | Beste Regie | Jacques Audiard | Nominierung |
Beste Nachwuchsdarstellerin | Lucie Zhang | Nominierung | ||
Bester Nachwuchsdarsteller | Makita Samba | Nominierung |
Cannes 2021
Toronto International Film Festival 2021
Zurich Film Festival 2021
Filmfest Hamburg 2021
Filmfest Emden Norderney 2021
Französische Filmtage Tübingen Stuttgart 2021
Französische Filmwoche 2021
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)