Eigentlich dachte der als Psychiater arbeitende Philip Clark (Casey Affleck), dass sich seine Patientin Daphne Flagg (Emily Alyn Lind) auf einem guten Weg befindet. Seit einer Weile betreut er schon die an Depressionen leidende junge Frau, half ihr dabei, sich aus einer kaputten Beziehung zu lösen. Und doch ist sie tot. Die Polizei vermutet, dass sie sich nach einem persönlichen Schicksalsschlag das Leben genommen hat. Als kurze Zeit später James (Sam Claflin) auftaucht, der entfremdete Bruder der Verstorbenen, drängt Philips Frau Grace (Michelle Monaghan) darauf, ihn zum Essen einzuladen. Und auch in der Folgezeit sehen die zwei ihn immer wieder, da er sich um den Nachlass seiner Schwester kümmern möchte. Mehr, als es Philip lieb ist …
Gleichgültige Grenzüberschreitung
Psychiater und Psychologen sind dafür da, den Menschen zu helfen, so viel ist klar. Doch was bedeutet das? Wie genau hilft man jemandem? Während die einen sich auf eine distanzierte Position zurückziehen, wo sie nicht viel mehr sind als ein Tagebuch, in dem die Patienten und Patientinnen ihren Müll abladen, da nehmen andere eine etwas aktivere Position ein. Philip gehört zu letzterer Gruppe, wenn er zunehmend Distanz vermissen lässt. Nicht nur, dass er sich stärker mit ihr austauscht als üblich, was bei anderen aus seinem Beruf nicht gut ankommt. Er überzeugt sie zudem davon, sich von ihrem Freund zu treffen und greift damit direkt in ihr Leben ein. Every Breath You Take hätte daher durchaus das Porträt eines Mannes werden können, der Grenzen missachtet.
Stattdessen weiß man mehr als 100 Minuten später immer noch nicht so recht, wer diese Figur nun ist oder sein soll. Das liegt auch an einer irgendwie eigenartigen Figurenzeichnung. Auf der einen Seite wird er als einfühlsam und mitteilungsbedürftig beschreiben. Zu sehen ist davon aber nichts. Im Gegenteil: Über längere Strecke meint man eher, es hier mit einem leeren Gefäß zu tun zu haben. Das hängt teilweise natürlich auch mit der Vorgeschichte zusammen: Philip und Grace haben einen kleinen Sohn durch einen Unfall verloren, was innerhalb der Familie zu einer wachsenden Distanz geführt hat. Every Breath You Take verpasst es aber, aus diesem Trauma auch wirklich etwas zu machen. Vielmehr sehen wir einen Casey Affleck (Manchester by the Sea), der gleichgültig durch die Gegend stapft und selbst in den aufbrausenderen Szenen wirkt, als hätte er eine Tüte Valium genascht.
Aus Spaß am Absurden
Sam Claflin (Book of Love, The Corrupted – Ein blutiges Erbe) dreht dafür umso mehr auf. Sonderlich subtil oder nuanciert ist sein Auftritt als erschütterter und zugleich charmanter wie mysteriöser Bruder nicht. Er zelebriert seine Rolle geradezu. Immerhin macht es aber am ehesten noch bei ihm Spaß zuzusehen, da er die völlig absurde Geschichte von Every Breath You Take, die einem Schundroman hätte entnommen sein können, dankbar aufnimmt und sich zu eigen macht. Der Rest ist nur irgendwie anwesend. Die Figuren haben alle Namen. Sie haben meistens auch eine Funktion. Nennenswerte Charaktereigenschaften sind aber weit und breit nicht zu sehen. Offensichtlich hatte Drehbuchautor David Murray darauf keine Lust oder sah keine Notwendigkeit, in der Hinsicht etwas zu unternehmen. Die Figuren sind nur ein Mittel zum Zweck.
Natürlich muss nicht jeder Thriller ein ausgefeiltes Psychogramm sein. Die Hand an der Wiege war jetzt auch nicht gerade ein Meisterwerk der Charakterisierung und fand dennoch jede Menge Fans. Den meisten im Publikum dürfte es vor allem auf die Frage ankommen: Ist der Film denn spannend? Leider hapert es bei Every Breath You Take ausgerechnet in der Hinsicht. So bescheuert die Geschichte auch sein mag, so vorhersehbar ist sie. Man weiß viel zu früh, was diese vermeintliche Wendung in Wirklichkeit bedeutet. Es gibt aber auch keine Szenen, die einem unbedingt in Erinnerung bleiben müssten. Der Film ist ein Beispiel dafür, dass man sich auch im Angesicht der größten Gefahr und tiefer Abgründe langweilen kann.
OT: „Every Breath You Take“
Land: USA
Jahr: 2021
Regie: Vaughn Stein
Drehbuch: David Murray
Musik: Marlon Espino
Kamera: Michael Merriman
Besetzung: Casey Affleck, Michelle Monaghan, Sam Claflin, Veronica Ferres, India Eisley
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