Glück auf einer Skala von 1 bis 10 Presque
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Glück auf einer Skala von 1 bis 10

Glück auf einer Skala von 1 bis 10 Presque
„Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ // Deutschland-Start: 2. Juni 2022 (Kino) // 7. Oktober 2022 (DVD)

Inhalt / Kritik

Sie leben in derselben Stadt am Genfer See. Aber es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sie zu Lebzeiten einander begegnen werden. Igor (Alexandre Jollien) fährt mit seinem dreirädrigen Fahrrad Biogemüse aus. Der Mittvierziger fällt auf, wenn er so durch die Straßen zuckelt, denn seine Motorik ist spastisch gestört aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung. Was ihm körperlich fehlt, macht er durch eine unglaubliche Belesenheit in der philosophischen Literatur wett. Der ältere Louis (Bernard Campan) hingegen ist weniger Denker als Pragmatiker. Seine ganze Energie steckt er in das Bestattungsunternehmen, das er vom Vater übernommen hat. Nur eines haben Igor und Louis gemeinsam. Beide sind viel unterwegs. So kommt es, wie es kommen muss in einer Buddy-Komödie: Louis fährt Igor an, er bringt ihn ins Krankenhaus und pflanzt so den Keim zu einer lange holprigen, letztlich aber wunderbaren Freundschaft.

Metaphysisches Experiment

Egal, was passiert, der körperlich behinderte Igor hat immer einen klugen Spruch auf Lager. „Ich mache ein metaphysisches Experiment“, sagt er, als er aus dem hinteren Teil des Leichenwagens klettert, wohin er sich als blinder Passagier geschlichen hat. Philosophieren bedeute, sich im Sterben zu üben, sagte Sokrates. Und wo kann man das wohl besser ausprobieren als direkt neben einem Sarg? Das ist lustig und sorgt für hintersinnigen Humor. Sogar in ihrer Deplaziertheit verlieren die lebensklugen Weisheiten kaum etwas von ihrer denkerischen Komplexität. Zudem liegt eine feine Selbstironie über Igors Flucht in die Bücher. Er weiß schließlich aus eigener Erfahrung, dass die tiefste Einsicht nicht weiterhilft, wenn man sie nicht in die Praxis umsetzen kann.

Daran hapert es bei Igor, und das ist nicht allein seine Schuld. Man muss nur in die Gesichter der Passanten schauen, um zu verstehen, warum er ein Außenseiter bleibt, keinen Freund findet, geschweige denn eine Frau. Es zählt zu den tragikomischsten Momenten des Films, wenn Igor ein bestechendes Bild für seine Lage findet: Wer durch die Straßen gehe und einen toten Hering an einem Faden hinter sich herziehe, werde kaum mehr Aufsehen erregen als ein Behinderter. Das Schlimmste dabei: Igor fühlt sich selbst als Hering, nicht als Mensch, der sein Tun auch wieder lassen kann.

Es weht natürlich ein Hauch aus dem Kassenschlager Ziemlich beste Freunde in das Roadmovie zweier Außenseiter hinüber. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass nun der Behinderte den Lebenskünstler und der körperlich Unversehrte den Griesgram gibt. Einmal wird das Vorbild sogar direkt zitiert: Bei einer Polizeikontrolle wegen einer überfahrenen Ampel zieht Igor sämtliche Register seiner Behinderung, um die Beamten möglichst schnell wieder loszuwerden. Ansonsten aber macht sich Glück auf einer Skala von 1 bis 10 recht unabhängig von Ziemlich beste Freunde. Die Komödie setzt weniger auf die teilweise erwartbaren Verstrickungen als auf die komplexe Zeichnung zweier unverwechselbarer Charakterköpfe.

Aus dem Leben gegriffen

Das kommt nicht von ungefähr. Denn die Hauptdarsteller Alexandre Jollien und Bernard Campan sind gleichzeitig die Regisseure des Films. Auch das Drehbuch haben sie gemeinsam geschrieben. Abgesehen vom fiktiven Plot flossen viele eigene Erfahrungen in die figurengetriebene Komödie ein. Die beiden sind im realen Leben seit langem befreundet, was auch damit zu tun hat, dass der körperlich behinderte Jollien eine Person des öffentlichen Lebens ist. Schauspieler und Komödiant Campan sah seinen künftigen Freund zuerst in einer TV-Sendung, in der er über die Lehre des Diogenes sprach.

Jollien ist der erste und einzige Denker und spirituelle Lehrer in der Geschichte der Philosophie, der mit einer zerebralen Lähmung geboren wurde. Ein paar seiner Bücher zur Lebenskunst sind auch auf Deutsch erschienen. Somit bewahren die biografische Verankerung und Jolliens Wunsch, seine eigene Figur zu spielen, den Film vor dem Vorwurf, sich auf Kosten von Behinderten amüsieren zu wollen. Mit französischem Esprit versprüht die tragisch unterfütterte Komödie eine Leichtigkeit, die sowohl die theoretische wie die praktische Auseinandersetzung mit dem Tod in pure Lebenslust ummünzen. Getreu dem buddhistischen Motto: Lebe den Augenblick. Dann verliert auch das Ende seinen Schrecken.

Credits

OT: „Presque“
Land: Frankreich, Schweiz
Jahr: 2021
Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien
Drehbuch: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Hélène Grémillon
Musik: Niklas Paschburg
Kamera: Christophe Offenstein
Besetzung: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Marilyne Canto, La Castou

Bilder

Trailer

Interview

Wer mehr über den Film erfahren möchte: Wir haben uns im Interview mit Regisseur und Hauptdarsteller Bernard Campon über Glück ist eine Skala von 1 bis 10 unterhalten und dabei so unterschiedliche Themen wie Philosophie und Diskriminierung unterhalten.

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Glück auf einer Skala von 1 bis 10
Fazit
„Das Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ erzählt von der ebenso ungewöhnlichen wie wunderbaren Freundschaft zwischen einem behinderten Fahrradkurier und einem verbiesterten Bestattungsunternehmer. Das ist vor allem deshalb berührend, weil hier nur die Story ausgedacht ist, aber nicht das Schicksal, das dahinter steht.
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