Selbst wenn sie sich in den Details unterscheiden, besteht jedoch Einigkeit innerhalb vieler Erziehungsratgeber und entsprechender Theorien, dass gerade die ersten Jahre eines Menschen entscheidend für die weitere Entwicklung sind. Unserer Erlebnisse und Erfahrungen aus dieser Zeit prägen uns erwiesenermaßen nachhaltig, meist unbewusst, weil wir auf die betreffenden Erinnerungen gar nicht mehr zugreifen können, was vielleicht ein Hinweis auf einen Verdrängungsprozess sein könnte. Besonders autoritäre Regime oder Ideologie wissen um diese entscheidenden Jahre eines Menschen Bescheid, weshalb die Indoktrination bereits sehr früh beginnt, in entsprechenden Organisationen oder indem man gar den Eltern ihre Kinder wegnimmt, wie es in vielen ehemaligen britischen Kolonien der Fall war.
Wie im Falle der Aborigines oder der Maori spricht man gar von einer „verlorenen Generation“, die ihre Traditionen nicht mehr beherrscht und eine Art gespaltenen kulturelle Identität aufweist, definiert durch jene gewaltsame Trennung vom Elternhaus. Der Weg zurück ist ein beschwerlicher, wenn nicht sogar ein unmöglicher, denn auch wenn man zurück will zu jener Identität, die ein Kind oder Jugendlicher eigentlich hätte haben sollen, bleibt die Frage bestehen, inwiefern man diese widernatürliche Entwicklung rückgängig machen kann, ob man die erlittenen Traumata überwinden und sich eine selbstständige Identität schaffen kann.
In seinen bisherigen Arbeiten als Dokumentarfilmer befasst sich der im Irak geborene Filmemacher Zahavi Sanjavi mit eben diesen Fragen. Bereits in seinem ersten Film The Return begleitete er einer freiwilligen Helferin, die den Menschen, die vor Terror und Krieg fliehen mussten, zunächst einmal zuhört und dadurch einen ersten Schritt zur Verarbeitung und dem Leben mit dieser Erfahrung leistet. In Imad’s Childhood, der auf dem diesjährigen DOK.fest München gezeigt wird und aus dem Tempo Documentary Festival 2021 als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, erzählt Sanjavi eine Geschichte, die man gewissermaßen als Ergänzung zu seinem vorherigen Film sehen kann. Er und sein Team begleiten Ghazala, die mit ihren beiden Söhnen Imad und Idan vom IS entführt wurde und nun, nach ihrer Freilassung, in einem Flüchtlingslager versucht, dieses Trauma zu verarbeiten. Besonders Imad, der von den Terroristen mitgenommen wurde, misshandelt wurde und Zeuge von unbeschreiblichen Gräueltaten wurde, ist geprägt von den Erlebnissen, entzieht sich der Mutter, ist aggressiv und verhaltensgestört. Über ihre Geschichte zeigt Sanjavi nicht nur die Schreckenstaten der IS oder, genauer gesagt, welche emotionalen Schäden sie hinterlassen, sondern zugleich, ob es einen Weg gibt, wieder zu sich zu finden, mit diesen zu leben und vielleicht sogar wieder „normal“ zu werden.
Die Folgen des Terrors
Die Kamera begleitet immer wieder Imad und seinen Bruder bei deren Streifzügen durch das Flüchtlingslager, zeigt, wie vor allem Imad sich nicht mehr beherrschen kann, um sich schlägt und schreit und frustriert mit den Füßen auf den Boden stapft. Zwar gelingt es vielen Menschen, zunächst einer Therapeutin, später auch seiner Mutter und anderen Freunden der Familie, zu dem Jungen durchzudringen, doch immer wieder wird die Kamera, und damit auch der Zuschauer, Zeuge jener Rückfälle, in denen sich das Ausmaß der emotionalen Verwüstung zeigt, die der Terror in dem Jungen angerichtet hat. Besonders im Vergleich mit Gleichaltrigen, die Imad von sich weist, die er schlägt, anspuckt und beleidigt, wird der Kontrast mehr als deutlich und was über in den vier Jahren, die er mit den Terroristen verbrachte, verloren gegangen ist. Seine Geschichte ist jedoch zugleich die seines Bruders und seiner Mutter, die durch ihn eine konstante Erinnerung an diese dunkle Zeit haben, an die schrecklichen Dinge, die sie mitansehen mussten und die Angst, die sie empfanden.
Ähnlich wie die vielen Menschen, die sich Imad und seiner Familie annehmen, ist auch die Dokumentation geprägt von einem ruhigen, geduldigen Ansatz. Die Entwicklung des Jungen wird begleitet, seinen Fort- und Rückschritte, immer mit einem tiefen Verständnis dafür, was er erlebt und gesehen haben muss, dass man nur ansatzweise erahnen kann. Imad’s Childhood zeigt damit eine viel zu oft vernachlässigte Seite des Terrors und seiner Folgen, die viel nachhaltiger sind, als man es sich vorstellen kann.
OT: „Imads barndom“
Land: Schweden, Lettland, Irak
Jahr: 2021
Regie: Zahavi Sanjavi
Kamera: Heshmatolla Narenji
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