In Japan wie auch in vielen andere Kulturen ist der Angestellte, entweder einer Firma oder eines kleinen Betriebs, in gewisser Weise ein Symbol für den Mittelstand einer Nation. Dies ist durchaus nicht negativ konnotiert, braucht doch ein jedes politisches wie auch wirtschaftliches System eine solide Mittelschicht, um auf lange Sicht überleben zu können. Gerade in Zeiten des Wachstums bemerkt man, wie in vielen anderen Feldern ebenso, dass die Zahl der Angestellten, gerade im urbanen Raum, zunimmt. In Japan konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg, gegen Ende der 1950er Jahre eine solche Phase des Wachstums beobachten, die letztlich zur Geburtsstunde des „salaryman“ wurde, einer Sorte Angestellter, der auf lange Zeit eine Art Aushängeschild Japans wurde, ein Sinnbild für eine Kultur, in welcher das Leistungsprinzip keine hohle Phrase war und Aufopferung, Loyalität und der eiserne Wille, sein Leben in den Dienst eines Unternehmens zu stellen, sich trafen. In vielerlei Hinsicht kann man den „salaryman“ als einen fernen Verwandten der Samurai sehen, die nach einem ähnlichen Kodex lebten und ebenso ihr Leben unter das ihres Gebieters stellten, dem sie bedingungslos folgte. Auch in anderen Kulturen fand dieses Phänomen Beachtung, wie beispielsweise Fernsehbeiträge oder Dokumentationen aus den 1980er Jahren, aus dem europäischen wie auch US-amerikanischen, zeigen. Jedoch hat dieses spezielle Bild des Angestellten schon seit langer Zeit großen Schaden genommen, sodass die Frage besteht, inwiefern dieses Bild Japans nicht schon lange einer Revision bedarf.
Als die in Costa Rica geborene Künstlerin und Fotografin Allegra Pacheco nach Tokio kam, war das Bild der „salarymen“ omnipräsent. Nach einer langen Zeit in New York, wo sie das Gefühl hatte, ihren Traum als Künstlerin nicht ausleben zu können, reiste sie aus einem Bauchgefühl heraus in die japanische Hauptstadt, was nicht zu nur zu einer Begegnung mit all jenen Stereotypen zu dieser Kultur führte, sondern ebenso zu einem Moment der Irritation, als sie hinter das Bild der „salarymen“ schaute. In ihrer Dokumentation Salaryman, die bereits auf dem Los Angeles Documentary Film Festival gezeigt wurde und nun im Programm der Nippon Connection 2022 vorhanden ist, liefert dieser Moment den Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses kulturellen Archetypen und letztlich ein Bild Japans, was irgendwie gefangen zu sein scheint zwischen dem Glanz alter Zeiten und einer Umorientierung bezüglich der modernen Arbeitswelt, die durch Faktoren wie Globalisierung, Gentrifizierung und Digitalisierung sich nachhaltig verändert hat.
Sklave des Systems
Der bereits angesprochene Moment der Irritation steht dann auch sogleich am Anfang von Salaryman, wenn man Bilder von eben jenen Angestellten sieht, die aus Erschöpfung einfach auf Parkbänken, in Unterführungen oder gleich auf dem nackten Asphalt schlafen. Das Leben um sie herum, wie Pacheco bemerkt, geht derweil weiter, mit den anderen Passanten, die einfach ihres Weges gehen, ihre schlafenden Mitmenschen gänzlich ignorieren oder schlichtweg einen weiten Bogen um sie machen. Irgendwann wurde der Regisseurin dies wohl einfach zu viel, sodass sie mit Kreide die Umrisse der Schlafenden nachzeichnetet, welche sie dann mit einer Mischung aus Genervtheit und Verwunderung zur Kenntnis nehmen, wenn sie dann aufwachen und sich auf den Weg nach Hause machen. Diese Szenen definieren die Vorgehensweise Pacheco, die sich mittels Archivaufnahmen und ihrer Gesprächspartner, darunter ehemalige Angestellte und Soziologen, auf eine Art Spurensuche macht, wie das Bild des „salaryman“ sich gebildet hat und wie es nun dabei ist, sich selbst zu demontieren.
Zugleich folgt sie mit ihrer Kamera dem Ablauf eines normalen Tages eines Angestellten sowie deren Familien, bei denen sich die Ehepartner in der Woche, wie eine Ehefrau beschreibt, bestenfalls zwei- oder dreimal die Woche über sehen. Ähnlich dem angesprochenen Samurai gibt es das Individuum und dessen Interessen in der Welt der „salaryman“ nicht, die sich gänzlich dem Profitwillen des Betriebes unterordnen und sogar ihre Freizeit unter dieses Banner stellen. Im Kontext einer Wirtschaft, die bereits durch die Krise gegen Anfang der 90er Jahre einen empfindlichen Dämpfer bekommen hat, wirken die „salaryman“ nicht nur wie Artefakte einer anderen Zeit, sondern wie jene „Sklaven des System“ (corporate slaves), wie sie ein ehemaliger Angestellter nennt. Pachecos Bild ist damit zugleich Symbol einer Kultur, deren Bilder und Symbole einer Revision bedürfen und die ihre Mitmenschen auf der Strecke lässt, wenn diese es noch nicht einmal bis nach Hause schaffen, um sich von der Arbeit zu erholen.
OT: „Salaryman“
Land: Japan
Jahr: 2021
Regie: Allegra Pacheco
Musik: James Iha
Kamera: Eduardo Uribe, Allegra Pacheco
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