60 Jahre lang hat Ah Tao (Deannie Ip) für die Familie Leung in Hongkong gearbeitet, hat die Kinder groß gezogen und sich um den Haushalt gekümmert. Drei Generationen hat sie aufwachsen sehen. Doch damit ist nun Schluss. Nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hat, beschließt sie, die Arbeit hinter sich zu lassen und in ein Altersheim zu ziehen. Roger (Andy Lau), der letzte der Leungs, der noch in der Heimat lebt, hilft ihr dabei und versucht auch sonst für sie da zu sein, als Dank für die vielen Jahre, die sie für alle da war. Einfach ist das nicht für sie, schließlich ist sie es nicht gewohnt, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann ist da auch noch ihre Gesundheit, die zunehmend abnimmt …
Über das Leben unter anderen
In den letzten Jahren hat es eine ganze Reihe von Filmen gegeben, bei denen anhand von Beschäftigungsverhältnissen über Klassenunterschiede gesprochen wurde. Das bissig-humorvolle Parasite war in der Hinsicht natürlich das bekannteste Beispiel, wenn eine Familie das Haus einer anderen kapert. Andere Filme zogen einen ernsteren Tonfall vor. Die Saat war ein erschütterndes Drama um die Verhältnisse auf einer Baustelle, wo die Menschen nach dem Prinzip „friss oder stirb“ unter widrigen Bedingungen arbeiten müssen. Praktisch immer läuft es darauf hinaus: Wer an der Macht ist, nutzt die darunter hemmungslos aus. Wenn sich daran etwas ändern soll, dann nur gegen den Willen der Oberen.
Tao Jie – Ein einfaches Leben zeigte einige Jahre zuvor, dass dieses Thema auch ganz anders erzählt werden kann. Klassenunterschiede gibt es hier natürlich auch. Wenn Ah Tao im Alter alles ablehnt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte – etwa ein eigenes Handy –, dann hängt das einerseits schon mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Sie ist bescheiden, möchte nicht im Mittelpunkt stehen, legt auch keinen Wert auf Statussymbole. Gleichzeitig darf man sich aber auch fragen, wie viel von dieser Persönlichkeit angeboren ist und wie viel auf ihre Arbeit zurückzuführen ist. Wer sechzig Jahre lang nur dafür da war, das Leben anderer zu stützen, ohne selbst eins zu haben, der wird im hohen Alter nicht plötzlich fordernd auftreten. Die Protagonistin hat es einfach nicht gelernt, etwas für sich wollen zu dürfen.
Alltäglich und leise
Im Gegensatz zu anderen Filmen, die dieses Thema behandeln, gibt es hier aber keinen großen Konflikt, der abgearbeitet werden müsste. Tao Jie – Ein einfaches Leben urteilt nicht über die vermögende Familie, deren Angestellte Ah Tao war. Roger ist nicht der selbstsüchtige Ausbeuter, sondern versucht im Gegenteil alles für die alte Dame zu tun, hält den Kontakt zu ihr, selbst als sie von keinem Nutzen mehr für sie ist. Auch das wird nicht großartig thematisiert, obwohl es eigentlich bemerkenswert ist. So selbstverständlich die Angestellte für die Familie Leung da war, so selbstverständlich ist es, dass sich die Rollen jetzt umkehren, was dem Film eine sehr versöhnliche Note gibt.
Auf Kitsch verzichtet Ann Hui (Love After Love) hingegen. Irgendeine Situation reißerisch auszuschlachten liegt ihr ebenso fern wie eine gezielte Manipulation des Publikums. Das Drama erzählt nicht nur von einem einfachen und sehr alltäglichen Leben, sondern vertraut auch auf einfache Mittel, um dieses näher zu beleuchten. Das könnte für so manche Zuschauer und Zuschauerinnen zu wenig sein, zumal der Film mit einer Laufzeit von zwei Stunden nicht ganz kurz ist. Selbst später, wenn die Zerbrechlichkeit zunimmt und sich die Zeichen mehren, dass die alte Dame auf der Zielgeraden ihres Lebens angekommen ist, lässt sich Hui nicht vom Weg abbringen. Mit viel Einfühlungsvermögen und einem Blick für die Details erzählt die bedeutende chinesische Regisseurin von einer Frau, die niemand ist und doch von großer Bedeutung. Für Liebhaber und Liebhaberinnen leiser Geschichten ist dieser gleichermaßen alltägliche wie poetische Film daher ein Muss, der geprägt ist von einer Menschlichkeit, wie man sie eben nicht jeden Tag sieht.
OT: „Tao Jie“
Land: Hongkong, China
Jahr: 2011
Regie: Ann Hui
Drehbuch: Roger Lee, Susan Chan
Musik: Wing-Fai Law
Kamera: Lik-wai Yu
Besetzung: Deannie Ip, Andy Lau, Qin Hailu, Fuli Wang, Paul Chiang
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