Als ein neuer Tag in Tunesien beginnt, werden die ländlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zusammengetrommelt, um anschließend gemeinsam mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Auf dem Weg zu den Feigenbäumen, die nur darauf warten geerntet zu werden, ist an diesem Tag jedoch ein Neuer dabei. Schnell erkennt ihn das Arbeitsvolk allerdings wieder, es sind nur viele Jahre vergangen, seitdem sie den jungen Mann zuletzt gesehen haben. Die älteren Damen erinnern sich sogar an die Eltern des jungen Mannes, der, wie wir nicht viel später erfahren, einen familiären Todesfall miterleben musste. Bei den Feigenbäumen angekommen, werden aber nicht nur die persönlichen Geschichten der Arbeiter und Arbeiterinnen festgehalten, es wird auch die Vergangenheit aufgearbeitet, geflirtet und gestritten. So werden nicht nur Kilo für Kilo an Feigen, sondern auch die Geschichten, die diese Menschen verbinden, zutage befördert.
Universelle Gesprächsthemen
Tausende Kilometer weit entfernt unterscheiden sich die Gespräche in der Einöde nicht sonderlich von denen in unserer Kultur. Auch hier geht es um familiäre Themen, Eifersucht, Pläne für die Zukunft und ganz wichtig: den Traum von einem besseren Leben. Der Unterschied zu vergleichbaren amerikanischen oder europäischen Filmen fällt nicht so deutlich aus. Lediglich die Sprache und eine Szene, in der die Arbeiter und Arbeiterinnen Pause machen und all ihr mitgebrachtes Essen brüderlich und schwesterlich miteinander teilen, verraten, dass wir hier eine andere Kultur vor Augen haben. Von diesem Moment einmal abgesehen, hinterlässt Under the Fig Trees, der auf dem diesjährigen Cannes-Festival zu sehen ist, den Eindruck einer globalisierten Welt. Besonders bei der Handynutzung macht sich dies bemerkbar, wenn die jüngeren Arbeiter und Arbeiterinnen über Instagram-Posts lachen und sprechen.
Der Fokus bleibt dabei die meiste Zeit auf der jüngeren Generation, die ältere rückt stärker in den Hintergrund. Währenddem Letztere die Pause zum Beten nutzt, spielt das bei den jüngeren Leuten keine Rolle. Stattdessen wird unter anderem über die Rolle der Frau diskutiert, wobei ein nachdenklicher Spruch einer jungen Arbeiterin fällt: „Der Mensch ist frei und kann machen was er will“ – eine augenscheinlich sehr emanzipatorische und fortschrittliche Position, wenn man bedenkt, dass in afrikanischen Ländern immer noch prekäre soziale Verhältnisse herrschen. Wie sehr das Ganze die Realität Tunesiens abbildet, bleibt dabei aber natürlich spekulativ – zumal sich diese Produktion zwischen einem Drama und einem semidokumentarischen Film bewegt.
Wenig Story, viel Substanz
Obgleich es nur um den herkömmlichen Alltag im Leben der Feigen-Ernter geht, so gibt es dennoch viel Interpretations- und Diskussionsspielraum, da Erige Sehiris Werk nicht nur ein Porträt über Zwischenmenschlichkeit ist, sondern auch über Arbeitsmoral. Der Boss ist schließlich omnipräsent und ein ständiger Beobachter. Es überrascht daher nicht, dass nach jedem Gespräch, sei es noch so tiefgründig, der Standardspruch vom Boss folgt: „Zurück an die Arbeit!“. Neben dem üblichen Tratsch und Gerede über den Boss und seine Probleme, gibt es auf der anderen Seite aber auch ernsthafte Themen, die hier zur Sprache kommen, darunter: Erinnerungen an bessere Zeiten, Hochzeiten, die Bedeutung von Liebe und was Frauen von einem guten Ehemann erwarten. Under the Fig Trees ist in der Gesamtheit damit kein Film, der sonderlich viel zu erzählen hat, sondern mehr zum Nachdenken anregt, besonders was die gegenwärtige Gesellschaft Tunesiens sowie die sozialen Veränderungen in den nächsten Jahrzehnten anbelangt.
OT: „Taht el Karmouss“
Land: Tunesien, Schweiz, Frankreich, Deutschland, Katar
Jahr: 2022
Regie: Erige Sehiri
Drehbuch: Erige Sehiri, Ghalya Lacroix, Peggy Hamann
Kamera: Frida Marzouk
Besetzung: Ameni Fdhili, Fide Fdhili, Feten Fdhili, Samar Sifi, Leila Ohebi
Cannes 2022
Filmfest München 2022
Toronto International Film Festival 2022
Around the World in 14 Films 2022
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