Ein kleines Dorf im Schweizer Jura, im Jahr 1877. Josephine Gräbli (Clara Gostynski) arbeitet in der örtlichen Uhrenfabrik und ist in der anarchistischen Bewegung engagiert, die in dem kleinen Tal sehr erfolgreich operiert. Davon hat auch der russische Adlige Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov) gehört, der auf einer Europareise den Kontakt mit revolutionären Kräften sucht. Später sollte Kropotkin einer der wichtigsten Theoretiker des Anarchismus werden. Der Kontakt mit den selbstbewusst auftretenden Uhrmacherinnen spielte dabei eine wichtige Rolle, soviel ist historisch verbürgt, unter anderem durch Kropotkins Autobiografie. Ob er sich damals verliebte, ist hingegen nicht belegt. Die fiktive Zutat ist aber wie vieles andere eine schöne Idee im zweiten Spielfilm von Cyril Schäublin, der in der Berlinale-Sektion Encounters sehr zu Recht mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.
Kein Mann ohne Uhr
Fototermin vor dem Fabrikgebäude: Ein Mann im weißen Kittel erklärt dem Direktor, welche Botschaft das Werbebild des Unternehmens transportieren möchte: Ein Mann ohne Uhr sei nicht komplett. Würde man diese Idee in den Köpfen verankern, habe man praktisch ausgesorgt. Der Direktor gibt etwas zu bedenken, als sich Josephine und Kropotkin nähern. Stopp, hier dürfen sie nicht einfach durchs Bild laufen. Aber die junge Arbeiterin weiß, mit welchen Argumenten man den hohen Herren kommen kann. Sie bringe eine Kiste mit 144 „Unruhen“, den Herzstücken jeder Uhr, die dringend in die Produktion müssen, argumentiert sie. Nehme sie einen anderen Weg, verliere sie – und damit die ganze Fabrik – vier Minuten.
Zeit ist Geld. Der Spruch hat sich längst bis in die letzten Fasern unserer Gehirne und Körper eingebrannt. Aber das war nicht immer so. Und es ist das Faszinosum des leisen, charmant-ironischen Films von Cyril Schäublin (Dene wos guet geit), dass er genau in den historischen Moment eintaucht, als die Hetze des modernen Lebens aus der Taufe gehoben wurde: mit dem Siegeszug einer Uhr, die jeder am Körper tragen kann. Ohne Zeigefinger und mit wohltuender Ruhe spürt der Film dem Unglück nach, das die modere Tyrannei der Zeit über die Menschheit gebracht hat. Und vor allem: Dass dies keineswegs alternativlos war. Im Uhrmacherdorf gibt es 1877 noch drei weitere Zeiten neben der Fabrikzeit: die Kirchenzeit, die Gemeindezeit und die Telegrafenzeit. Alle haben ihren eigenen Rhythmus, die Fabrikzeit ist (noch) keineswegs dominant.
Wie beiläufig streift der Film die Paradoxien des modernen Lebens. Mit einer Stoppuhr, die von den Arbeiterinnen der Fabrik gefertigt wurde, steht der Vorarbeiter hinter ihnen. Er misst, wie lange sie für jeden Arbeitsschritt brauchen. Wer zu langsam ist, fliegt raus. So wenden sich die Erzeugnisse potenziell befriedigender Arbeit gegen die, die ihre Lebenszeit für deren Produktion hergegeben haben. Die Einführung dessen, was man als Vorläufer des Taylorismus deuten kann, bleibt nicht folgenlos. Unrueh, Schwyzerdütsch für „Unruhe“, hat mindestens drei Bedeutungen. Der Begriff steht für das grundlegende Teil jeder Uhr, der das Räderwerk antreibt und in der richtigen Balance hält. Aber er meint natürlich auch das Aufbegehren der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens nicht nehmen lassen wollen. Und das Wort weist natürlich auf das nervöse Lebensgefühl hin, ohne das die Moderne kaum auszukommen scheint.
Zeit der Erfindungen
Aber man sollte sich wegen des Filmtitels nicht täuschen. Neben der Unruhe nimmt die Handlung gleichberechtigt eine Reihe anderer, nicht weniger zentraler Motive in den Blick. Etwa das Entstehen globaler Kommunikation durch die Einführung des Telegrafen. Oder die Auswirkungen, die der Einzug der Fotografie in den Alltag hat. Bilder lassen sich verbreiten, verschicken, austauschen. Die Person und ihr Porträt lösen sich voneinander, mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat. In Unrueh halten die Kolleginnen von Josephine deren Porträtfoto neben das von Kropotkin – eine Liebesgeschichte sozusagen im Virtuellen, während der Film die „echte“ Liebe ins Off verbannt. „Liebe ist schlussendlich undefinierbar und unbeschreiblich“, sagt Regisseur Cyril Schäublin in einem Interview über die mögliche Gegenmacht zur kapitalistisch getakteten Zeitökonomie.
Nicht nur die Liebe zeigt Alternativen auf, sondern auch die eigenwillige Ästhetik des Films selbst. In langen, meist statischen Einstellungen herrscht die Ruhe, die der Wirklichkeit abhanden kam. In weiten Tableaus kann sich der Blick des Zuschauers frei umschauen, uneingeengt von gängigen Vorgaben und filmischen Manipulationstechniken. Statt sein Publikum mit schnellen Schnitten an die Kandare zu nehmen, lädt ein gemächlicher Rhythmus dazu ein, sich in tief gestaffelte Räume zu versenken. Der Film setzt einen Kontrapunkt zu unserer hektischen Wirklichkeit. Er verschenkt Zeit.
OT: „Unrueh“
Land: Schweiz
Jahr: 2022
Regie: Cyril Schäublin
Drehbuch: Cyril Schäublin
Musik: Li Tavor
Kamera: Silvan Hillmann
Besetzung: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor, Valentin Merz
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