Frankreich Anfang der 1980er Jahre: Jerôme (Joseph Olivennes) und sein jüngerer Bruder Philippe (Thimotée Robart) betreiben zusammen auf dem Dachboden einen Piratensender, wo sie nach Lust und Laune mit Musik und Klängen experimentieren. Schwierig wird es jedoch, als Marianne (Marie Colomb) hinzustößt und beide Gefühle für die junge Frau entwickeln. Vor allem um Philippe ist es schnell geschehen. Nur fällt es ihm aufgrund seiner Schüchternheit schwer, mit ihr wirklich über seine Verliebtheit zu sprechen. Musik wird zu seinem bevorzugten Ausdrucksmittel. Als er zum Militär einbezogen wird, will er eben dieses Talent nutzen, um seiner Angebeteten eine Nachricht zukommen zu lassen. Ganz so einfach ist das dann aber doch nicht …
Erinnerung an die frühen 80er
Manchmal hat man das Gefühl, dass die 1980er nie so wirklich aufgehört haben. Sicher, da gab es eine Phase in den 1990ern, als man noch mit leiser Verachtung auf das Jahrzehnt zurückblickte und all das, wofür es stand. Doch das war einmal. In den letzten Jahren wimmelte es geradezu von Filmen und Serien, die auf eine Nostalgie für diese Zeit setzen – und das selbst bei einem Publikum, dass diese nie kennengelernt hat. Das ist manchmal schon ziemlich erzwungen, kann sogar nerven, wenn diese Rückgriffe zu offensichtliche Anbiederei sind und nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben. Aber es gibt auch lobenswerte Ausnahmen, bei denen die Zeitreise mehr ist als nur Zeitgeist. Eine dieser Ausnahmen ist die französisch-deutsche Coproduktion Die Magnetischen.
Mit einer Schicksalswahl beginnt die Geschichte des Dramas: Regisseur und Co-Autor Vincent Maël Cardona lässt die beiden Brüder daran teilhaben, wie François Mitterrand 1981 zum Präsidenten Frankreichs gewählt wird. Für die Linken war dies ein Triumph, es herrscht Aufbruchstimmung in dem Land, eine neue Phase beginnt. Dieser Einschnitt in der Grande Nation ist bei Die Magnetischen clever als Moment gewählt, um eine andere Aufbruchsgeschichte zu erzählen: die von Philippe. Was zunächst noch wie ein Familiendrama wirkt oder auch eine Romanze, wandelt sich in die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mannes, der seine eigene Stimme erst noch finden muss. Denn auch wenn er bei der Musterung versucht, sich selbst als stumm zu verkaufen, so hat er durchaus etwas zu sagen. Ihm fehlt zunächst nur das Mittel.
Aus Liebe zur Musik
Es ist vor allem die Musik, die ihm an dieser Stelle zur Hilfe eilt. Ein Lied ist es, mit dem einen ersten Schritt zu seiner großen Liebe wagt. Auch die Arbeit beim Radio, zunächst dem eigenen Piratensender, später bei einem richtigen, wird für ihn zu einem Mittel des Ausdrucks. Dabei sind es nur zum Teil die Lieder an sich, die zum Sprachrohr des jungen Mannes werden. Wichtiger noch ist in Die Magnetischen, wie er diese verwandelt: Da wird verfremdet, andere Geräusche eingebaut, bis aus dem Lied eine Collage wird, welche die ganze Welt in sich aufzunehmen scheint. Wann immer es Philippe an die Regler schafft, blüht er auf, gibt seinem Entdeckungsgeist freien Lauf. Dem Hunger auf diese Welt, die er anfangs nicht zu betreten wagt.
Dabei ist Die Magnetischen, welches 2021 bei der Quinzaine in Cannes Premiere feierte, kein Feel-Good-Coming-of-Age, das einen beschwingt durchs Leben tänzeln lässt. Immer wieder kommt es zu traurigen oder düsteren Ereignissen, kleine Triumpfe treffen auf Niederlagen. Der Weg zum Glück ist keiner, der sich einfach mal so ablaufen lässt. Vieles muss hier erkämpft werden, manches scheitert auch. Dadurch behält das Drama immer auch etwas Ambivalentes. Vincent Maël Cardona macht in seinem Debüt Mut, rauszugehen, zu sehen, zu hören, zu leben und erleben. Oft ist er mitreißend, verzaubert einen mit der mitreißenden Experimentierfreude. Er verzichtet aber darauf, dies mit Kitsch oder billigen Kalendersprüchen zu verbinden. Hier werden nicht im Touri-Modus die üblichen Allgemeinplätze abgeklappert.
Zwischen Zeitporträt und Charakterdrama
Was den Film auszeichnet, ist dabei die Mischung aus Zeitporträt und Charakterdrama. Vincent Maël Cardona nimmt uns mit in eine Ära, in der vieles gerade im Umbruch war, die Menschen gesellschaftlich, aber eben auch musikalisch nach Neuem suchten. Zahlreiche Lieder der späten 70er und frühen 80er kommen zum Einsatz, die für eine Entdeckung des Elektronischen stehen. Alt und neu, Stadt und Land, Frankreich und Deutschland – aber eben auch extrovertiert und introvertiert: Die Magnetischen ist geprägt von Kontrasten, welche in Kombination zu einer aufregenden Sinnsuche werden. Und zu einer fesselnd gespielten: Thimotée Robart, der schon mit dem sonderbaren Fantasydrama Der flüssige Spiegel auf sich aufmerksam machte, gefällt als sensibler Tüftler und Träumer, der in poetischen Voice-overs seine eigene Geschichte begleitet. Und bei diesen macht das Zuhören fast ebenso viel Spaß wie bei den musikalischen Einlagen.
OT: „Les Magnetiques“
Land: Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Vincent Maël Cardona
Drehbuch: Vincent Maël Cardona, Chloë Larouchi, Maël Le Garrec, Rose Philippon, Catherine Paillé, Romain Compingt
Musik: David Sztanke
Kamera: Brice Pancot
Besetzung: Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Fabrice Adde, Louise Anselme, Younès Boucif
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
César | 2022 | Bester Debütfilm | Sieg | |
Bester Nachwuchsdarsteller | Thimotée Robart | Nominierung | ||
Bester Ton | Mathieu Descamps, Pierre Bariaud, Samuel Aïchoun | Nominierung | ||
Prix Lumières | 2022 | Bester Debütfilm | Nominierung | |
Bester Nachwuchsdarsteller | Sieg |
Wer mehr über Die Magnetischen erfahren möchte: Wir haben bei der Deutschland-Premiere Thimotée Robart und Marie Colomb getroffen, die in dem Film die Hauptrolle spielen, und sie im Interview zu den 80ern, Musik und dem Wandel der Zeit befragt.
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